Wir lernen lebenslang. Aber die Lernkurve und die Art des Lernens sind in unserer Biographie sehr unterschiedlich. Am Beginn des Lebens müssen wir alle enorm viel lernen. Später flacht sich die Kurve ab. Der Lerndruck lässt tendenziell nach. Umso mehr stellt sich die Frage: Was muss, was möchte und was kann ich noch lernen?
Vor allem gegen Ende des Berufslebens, und erst recht danach, gehen unsere Lernpflichten zurück. Lernen wird in dieser Phase immer mehr zu einer selbstbestimmten Angelegenheit. Das rein fachliche Lernen tritt zunehmend in den Hintergrund. Viele genießen diese Freiheit und erweitern ihren Horizont. Manche reduzieren ihre Lernprozesse aber auch auf das lebensnotwendige Minimum. Lernverweigerer gibt es selbst bei älteren Menschen, sei es aus Lernunlust, aus Resignation oder manchmal auch aus Borniertheit. Einige meinen sie hätten ausgelernt. Erstarrung des eigenen Weltbildes, Lebensenge und kommunikative Schäden sind dann vorprogrammiert.
Kann man jenseits des Fachlichen auch das „gute Leben“ lernen? Ich würde mit einem vorsichtigen Ja antworten. Jedenfalls gilt: „Ich lerne, also bin ich.“ Lernen bringt uns näher an die Welt heran und weitet unser Ich. Im Unterschied zu einer passiven Konsumhaltung braucht es dafür Offenheit und den Willen zur aktiven Weltaneignung. Neugierde und Weltenhunger, aber auch eine Portion Ausdauer gehören dazu.
Allerding ist Motivation nicht alles. Lernwilligkeit und Lernfähigkeit sind zweierlei. Gerade ältere Menschen fühlen sich durch technische Entwicklungen oft überfordert. Bei PC, Internet und Handy stößt der gute Wille schnell an Grenzen. Das wirft die Frage nach den möglichen Sinnrichtungen von Lernen auf. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit hier – jenseits aller spezifischen Fachlichkeit – einige Grundrichtungen, die sich teilweise auch überschneiden:
- Häufig geht es um den Erwerb von praktischen Fähigkeiten. Das gilt nicht nur für technische Fertigkeiten oder für Freizeithandwerker, sondern etwa auch bei sportlichen Aktivitäten. Wer selbst segeln möchte, muss allererst mal segeln können. Auch wer in der Küche, an der Börse oder im Garten mitmischen will, muss Grundkenntnisse besitzen. Es gibt kaum ein Lebensfeld, auf dem man keine praktischen Kompetenzen braucht, um mitspielen zu können.
- Manchmal liegt der Schwerpunkt weniger auf dem praktischen Tun als auf einem gesteigerten Weltverstehen. Alles, was traditionell mit dem Begriff Bildung belegt ist, fügt sich in diese Sinnrichtung. Eine Fremdsprache lernen, Kunst, Musik und Literatur, Geschichte, Philosophie und Politik, Gesellschaft und Moral, naturwissenschaftliche Entwicklungen und technischer Fortschritt gehören dazu. Auch Reisen in fremde Welten, sofern sie sich nicht in bloßem Konsum erschöpfen, können Teil eines Lernprojektes zur Erweiterung des eigenen Weltverständnisses sein.
- Lernen kann aber auch eher existenziell nach innen gerichtet sein und auf Selbsterkenntnis und Selbstverortung zielen. Dabei geht es nicht nur um Psychologie und um soziales Lernen. Beispielhaft für diese Haltung steht Michel de Montaigne, der mit seinen Essays die moderne Form der Selbstreflexion begründet hat. Wer bin ich, was mache ich eigentlich hier, was sind meine Aufgaben? Dabei geht es um Orientierung in der Welt. Zu dieser Sinnrichtung zählt auch das religiöse Lernen, bei dem es um das Verständnis und die Vertiefung der göttlichen Dimension in unserem Leben geht, beispielsweise im Gebet oder mittels Meditation.
Lernintensität und Anforderungsniveau sind ebenfalls ein zentrales Thema. Es ist nicht immer einfach, sich auf neue Welten einzulassen. Gerade wenn man in einem Fach richtig gut ist, fällt es manchmal schwer, sich vom Profi auf die Stufe des Anfängers zu begeben. Wer erst mit 60 Klavierspielen lernt, wird schwerlich ein großer Pianist. Aber muss man das überhaupt? In einer Leistungsgesellschaft können maximale Anstrengung und Überbietungswettbewerb leicht zum Selbstzweck werden. Umso mehr stellt sich die Frage: Geht es beim Lernen um Perfektion oder doch eher um die eigenen Weltzugänge und um Selbstwirksamkeit? Ich meine, es macht frei, nicht unbedingt ein Profi sein zu müssen. Perfektionismus kann eine Falle sein. Die Figur des fröhlichen Dilettanten wird vollkommen unterschätzt.
Was möchten wir in der uns verbleibenden Restlaufzeit noch lernen? Spontan oder geplant: Jedes Lernen, ob eher praktisch, eher kulturell oder eher existenziell ausgerichtet, setzt eine Haltung des Hinhörens, des Hinsehens und des Verstehenwollens voraus. Man muss sich auf die Dinge einlassen, um sich neue Welten zu erschließen. Wohin geht unsere ganz persönliche Reise? So oder so, es gibt noch viel zu lernen. Bis zum Schluss. Gott sei Dank.
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