Einsamkeit

2. November 2024 | 0 Kommentare

Wann fühlen wir uns einsam? Und wie gehen wir damit – und mit der Einsamkeit von anderen – um? Das kommt ganz darauf an, denn es gibt sehr verschiedene Arten von Einsamkeit. Das gängige Verständnis meint den isolierten Menschen ohne ausreichende Sozialkontakte, der sich nicht mehr gesehen und vom Leben abgeschnitten fühlt. Die Einsamkeit aufgrund eines Traumas ist dagegen etwas ganz anderes, ebenso wie die Tarnung und Verdrängung von Einsamkeit durch Überbetriebsamkeit, durch übermäßigen Unterhaltungs- und Alkoholkonsum oder durch andere Fluchtmechanismen. Daneben gibt es mindestens noch die existenzielle Einsamkeit, die sich eher auf einer philosophisch-theologischen Ebene der Verlassenheit abspielt. Von dieser Art Einsamkeit können wir die Erkenntnis mitnehmen, dass sie zu unserem Leben dazu gehört. 

Hinzu kommt, dass Einsamkeit im Laufe des Lebens sehr unterschiedlich erlebt wird – etwa als Kleinkind, in der Pubertät, bei einem biographischen Bruch oder als alter Mensch. In allen Fällen gilt, dass Einsamkeit Ängste auslösen und krank machen kann. Manchmal meldet sie sich auch schlagartig mitten im Leben durch Gefühle tiefen Befremdens. Vertraute Menschen und Welten sind einem plötzlich fern, man fühlt sich isoliert und nicht mehr zugehörig. Dramatisch sind Gefühle des totalen Abgeschnittenseins und der tiefen Verlassenheit. 

Formen der sozialen Einsamkeit werden heute manchmal als eine Art Betriebsunfall betrachtet. Verantwortlich gemacht werden beispielsweise Fehlentwicklungen in der individuellen Sozialisation oder gesamtgesellschaftliche Konstellationen. Als Extrembeispiel für die erste Gruppe mag das in Japan bekannte Phänomen von jungen Menschen stehen, die ihre Wohnungen überhaupt nicht mehr verlassen und nur noch digital mit der Außenwelt verbunden sind. Als Beispiel für einen gesamtgesellschaftlichen Betriebsunfall kann die erzwungene Isolation im Zeichen von Corona stehen. Die ist vielen, gerade auch jüngeren Menschen, nicht gut bekommen. Die durch Einsamkeit verursachten persönlichen und gesellschaftlichen Schäden einschließlich ihrer Kosten sind jedenfalls enorm. Das gilt für Junge und Alte gleichermaßen. Wer einsam ist, ist im Durchschnitt deutlich unglücklicher und kränker als sozial gut eingebettete Menschen. Längst ist das Thema auch in der Politik angekommen. Die Bekämpfung von Einsamkeit wird zunehmend als neue öffentliche Aufgabe begriffen, nicht nur auf kommunaler Ebene („gemeinsam statt einsam“), sondern auch in den Ländern und im Bund, Stichwort Einsamkeitsministerium in GB oder „Strategie gegen Einsamkeit“ und „Einsamkeitsbarometer“ der Bundesregierung. Ob das wirklich eine Staatsaufgabe ist, darüber kann man streiten. Immerhin sind auch viele Ehrenamtler bei der Bekämpfung von Einsamkeit beteiligt. 

Jenseits der großen Lösungsansätze braucht es aus meiner Sicht jedenfalls auch persönliche Strategien, um mit Einsamkeit gut zurecht zu kommen. Wer Einsamkeit gar nicht erträgt, ist arm dran. Einsamkeitskompetenz, verstanden als die Kunst mit Einsamkeit auf gute Weise umzugehen, ist eine Schlüsselqualifikation, gerade weil unsere Zeit auf Tempo und Erlebnismaximierung eingestellt ist. Es gibt keineswegs nur die schlechte Einsamkeit, sondern Einsamkeit – oder vielleicht besser Alleinsein – kann auch positive und bereichernde Aspekte haben. Konzentration, innere Sammlung und Orientierung, das genaue Hinhören und Hinsehen, das Verstehen komplexer Lebenszusammenhänge, Selbsterkenntnis, auch Kreativität und Meditation brauchen einen gewissen Rückzug und eine Kultur der Einsamkeit und der Stille. Im digitalen Zeitalter ist diese Erfahrung allerdings ziemlich rar. Gute Einsamkeit benötigt Pflege und Einübung. Wie viel Einsamkeit uns gut tut, ist individuell natürlich ganz verschieden, aber so viel ist klar: Zu viel Einsamkeit tut niemandem gut.  

Zur Einsamkeitskompetenz gehört deswegen die Fähigkeit, ihr auch wieder zu entkommen. Das Gegenteil von Einsamkeit ist Verbundenheit bzw. Zugehörigkeit. Wer sich für andere interessiert und auf andere zugehen kann, wer Zugehörigkeiten aufbauen und pflegen kann und wer vielfältige Interessen verfolgt, hat es leichter aus der eigenen Einsamkeit herauszufinden. Letztlich geht es um eine Art Pendelbewegung vom Ich zum Du zum Wir und zurück. Gemeinsame Aktivitäten tragen dabei manchmal weiter als endlose Gespräche. Um miteinander zu singen oder zu wandern muss man keineswegs in allen wichtigen Fragen des Lebens übereinstimmen oder sich darüber austauschen. Und weil Einsamkeit keine singuläre Erfahrung ist, kann man sie sogar teilen, jedenfalls darüber sprechen. Wer dagegen darauf wartet, dass andere sich für ihn interessieren, aber selber nicht bereit ist, dies auch umgekehrt zu tun und nur vor sich hin monologisiert, wird schwerlich aus seiner Einsamkeit herausfinden. Man kann es auch böse formulieren: Manche Einsamkeit ist selbstverschuldet. Letztlich bleibt unsere Existenz immer in die Dualität von Einsamkeit und Geselligkeit eingespannt. Dem entkommt keiner. Machen wir das Beste daraus, vom Ich zum Du zum Wir – und zurück.

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