Müssen wir mehr miteinander streiten – und wenn ja worüber und wie? Streit ist eine ausgesprochen zwiespältige Angelegenheit. Er kann konstruktiv oder destruktiv sein. Es kommt darauf an, mit welchen Zielen und mit welchen Mitteln man sich streitet. Optimisten erkennen in ihm eine Methode, eine Art Findeverfahren, um zu guten Ergebnissen zu gelangen. Idealerweise steht am Ende ein tragfähiger Kompromiss. Sie setzen auf die positive Kraft des Streites und darauf, dass er nicht aus dem Ruder läuft. Pessimisten fürchten dagegen eher seine destruktive und vergiftende Wirkung und vermeiden deswegen lieber von vornherein jede Auseinandersetzung. Ihre Haltung ist „bloß kein Streit …“, gilt auch für sehr harmoniebedürftige und bequeme Menschen.
Daraus folgt: Streit kann, aber muss nicht negativ sein. Dass der Streit der Vater aller Dinge ist, behauptete bereits Heraklit (häufig auch übersetzt als „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“). So gesehen müsste es uns ja eigentlich gut gehen. Wenn man die Politik anschaut, fehlt es gerade nicht an Konflikten, an Streit und an Kriegen. Das gilt international, aber auch innerhalb vieler Länder, und das nicht nur in Europa. Der verbreitete politische Rechtsruck verschärft überall die Tonart. Einige Strategen versuchen heute ganz gezielt, den geistigen Krieg in die eigene Bevölkerung hinein zu tragen. Die Politstrategen von Donald Trump machen es vor. Gesellschaftliche Unversöhnlichkeit und ein strenges Freund-Feind-Schema bilden die Grundlage einer gewollten Spaltung der Bevölkerung, entschlossene Feindschaft wird zum Identitätsmerkmal. Das gilt in unserem Land auch für viele (Rechts-) Extremisten, mit weitreichenden Folgen, zumal in einer Demokratie. Feindschaft schließt Empathie für den Gegner aus und zielt in letzter Konsequenz auf dessen Vernichtung. Das zerstört die Demokratie. Und in den sozialen Medien herrscht oft ein Überbietungswettbewerb mit möglichst grellen Urteilen, mit Wut und Hasskaskaden. Das Gemäßigte bleibt dahinter unsichtbar.
Andererseits drohen schwerwiegende Verwerfungen, wenn Streitigkeiten aus Herrschaftsdenken, aus Harmoniesucht oder aus banaler Feigheit, unter den Teppich gekehrt und nicht „ausgestritten“ werden. Drängende streitbehaftete Themen kann man jedenfalls auf Dauer schwerlich wegignorieren. Und der stille Befehl „Du sollst nicht sehen“ macht nicht nur Kinder krank. Das Unausgestrittene entwickelt oft ein Eigenleben. Das kann Depressionen und Einsamkeit, Beziehungsstörungen aller Art, zerstörerische Lebenslügen und mitunter gefährlichen Stillstand befördern, persönlich und kollektiv. Bevor der Streit nun aber vorschnell als Allheilmittel zur Problemlösung gepriesen wird, sollte klar sein, dass es Spielregeln braucht. Streit bedarf der Einhegung, der Rationalisierung und der Streitkultur, sonst droht das Abrutschen in unversöhnlichen Hass oder kollektiv in den Bürgerkrieg der Weltanschauungen. Die Frage ist allerdings: Wer gibt dabei den Schiedsrichter?
Zurück zur Wirklichkeit. Haben wir eine gute Streitkultur in unserem Land? Daran kann man in einer permanent erregten und überhitzten Öffentlichkeit manchmal zweifeln. Wut und Hass verkaufen sich gut. Manche Talkshows sind gezielt auf Krawall gebürstet und werden personell entsprechend bestückt – Fachleute Mangelware, Hauptsache Quote. Sachlichkeit und praktizierte Abwägungskunst sind dagegen nicht sonderlich in Mode, wobei es auch gute Formate gibt, mE derzeit zum Beispiel „Die 100 – Was Deutschland bewegt“.
Anfangen muss man wahrscheinlich, wie meistens, bei sich selbst. Ein erster Schritt könnte die Frage sein: Worüber sollten wir im Sinne seelischer Hygiene streiten? Ist vielleicht etwas liegen geblieben zwischen uns, was wir übersehen haben oder nicht sehen wollen? Damit eben nichts unter den Teppich gekehrt wird. Das ist unbequem und mitunter auch trennend. Erwachsen handelt aus meiner Sicht, wer andere Sichtweise zwar nicht teilen, aber doch immerhin nachvollziehen und ein Stück weit verstehen kann. Andererseits sollte man nicht jeden Kleinkram überhöhen und zum Streitthema erheben. Man muss sich auch nicht in jeden Streit hineinziehen und von jedem Heißtreiber triggern lassen.
Dass wir in der Politik mehr sachlichen Streit und weniger emotionale Brandbeschleuniger brauchen, und – genauso übel – keine alles nur zukleisternde Beschwichtigungrhetorik, ist meine feste Überzeugung. Genauso wichtig finde ich einen eher altmodischen und sportlichen Aspekt: Man muss auch verlieren können, ohne sich auf alle Zeiten persönlich zuzugrollen. Demokratie bedeutet immer, dass einige zwangsläufig verlieren. Es kommt deswegen darauf an, Widerspruch und verlieren frühzeitig einzuüben, ohne daran zu verzweifeln, zum Beispiel bei Spiel, Sport und in der Schule. Gut verlieren kann man überall da, wo eine Grundwertschätzung nicht aufgekündigt wird. Wo die fehlt, wird es dagegen schnell fürchterlich – kollektiv und privat.
Auch wenn es eine Binse sein mag, so ist es dennoch wahr: Entschlossen und mutig streiten ja gerne, aber bitte immer mit gegenseitiger Wertschätzung.
0 Kommentare