Meine unausgelebte Neigung zur Verzauberbergung – Zeit, sich zu outen. Ja, ich bin ein Zauberberger, jedenfalls von Zeit zu Zeit. Süße Weltflucht, durch Corona noch bestärkt. Lasst mich in Ruhe, wie schön klingt Chopin, und wie gut schmeckt der Wein dazu. Ein bisschen kraft- und irgendwie manchmal auch orientierungslos. Fallen lassen, einsam und alleine, aber frei und unbehelligt. Weich, aber nicht aufgeweicht. Verletzlich, aber nicht zerstört. Die Freuden des Rückzuges. Das ist nicht wenig.
Passend dazu: Novemberfreuden mit Novemberfreunden. Auf der Suche nach einem Hydeaway, auf der Landkarte unserer deutschen Gefühlsmatrix irgendwo zwischen Romantik und existenzieller Vereinzelung.
Trägt nur begrenzt, aber immerhin. Zahltag ist später, jetzt Hingabe an – ja an was? Ans ganz persönliche Nichtmüssen, Nichtkönnen und Nichtwollen. Eine gewisse Antriebslosigkeit, zum Glück noch deutlich vor dem Überdruss, insofern auch noch genussfähig.
Wie passend Karl Valentin. „Heute in mich gegangen. Auch nichts los.“ Macht aber nix, kann manchmal ganz schön sein. Zumal daneben die deprimierende, aber ziemlich wahre Einsicht eines Blaise Pascal steht: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Jetzt etwas gegen das Unglück der Menschheit tun und zu Hause bleiben.
Vielleicht etwas zu vergeistigt und zu viel verlangt, aber die Sehnsucht nach Ruhe und Abgeschiedenheit eines Zauberberges, die man manchmal auch mit Gleichgesinnten teilen mag, ist ein im lärmenden Rauschen unserer Zeit völlig unterbewerteter Zug unserer Existenz. Dafür muss man entweder ganz viel Zeit haben (wer hat das schon?) oder pensioniert sein und einigermaßen frei von ambitionierten Bestrebungen jeglicher Art. Man muss sich das Nichtstun, auch das keine neue Erkenntnis, auch leisten können.
Ersatzimpulse für weniger Zeitbeschenkte gibt es genug. Als Überholspur auf der Zeitschiene bieten sich an Achtsamkeitstraining, Joga, vielerlei Meditationstechniken, unzählige Wellnessangebote usw. Sie verheißen den Weg nach Innen zu einem – hoffentlich – ruhigeren Ichkern jenseits der bloßen Ich-Funktionalität. Ist zwar noch kein Zauberberg, eher eine Art Teilzeitabstand zu dem, was einen sonst so umfangen hält, aber immerhin.
Auch wenn Abstand das Stichwort ist, gibt es einen bedeutenden Unterschied des Modus Teilzeitabstand zum Modus der Verzauberbergung: Bei den Techniken der Teilzeitabstandsfindung geht der Gedanke der Zweckgerichtetheit und der Effizienz häufig doch irgendwie mit, beispielsweise in Form der Erwartung einer Wiederherstellung der eigenen mentalen Fitness oder als absichtsvolle Burnout-Prophylaxe, wogegen Verzauberbergung jedenfalls auch ein durchaus bewusstes und gewolltes Sichausliefern an den Zustand der Zwecklosigkeit und manchmal auch der Langeweile bedeutet, ohne zu wissen, was passiert und was das mit mir macht.
Absichtsvolle Langeweile, verstanden nicht als Zustand des Leidens an innerer Leere, die es so schnell wie möglich zu füllen gilt, sondern eher als notwendige Vorstufe zu einer praktisch gelebten Muße. In der Muße zeigen sich Fülle, Sinn, Schönheit, Freude und vieles mehr. Gar nicht so einfach, da hin zu kommen. Gute Langeweile will wohl gelernt sein. Sie kann den eigenen Blick öffnen und weiten. Also Abstand durch Langeweile gleich Muße?
Ganz so einfach geht die Formel doch nicht auf. Immerhin, in der bewussten Langeweile zeigt sich deutlicher als sonst, womit die eigenen inneren Räume befüllt sind. Klar ist: Ein reiches Innenleben macht Langeweile fruchtbar. Also kommt es entscheidend auf die eigene Innenbefüllung an: Was schleppe ich eigentlich alles mit mir herum? Was habe ich mir im Laufe der Zeit auf meine persönliche Festplatte geladen? Dafür muss man nicht unbedingt eine Psychoanalyse machen. Einfach mal sich selbst zuhören wäre schon was. Langeweile kann eine Art Geburtshelferin für eigenes Fühlen, Denken und Erkennen werden. Dafür braucht es noch nicht einmal einen echten Zauberberg, sondern viele Orte können Zauberberg sein.
Zauberberge sind allerdings keine Orte, an denen man sich dauerhaft aufhalten sollte. Der Weg zurück will stets gegangen werden. Das Erwachen danach und das Auftauchen aus dem inneren hydeaway, möglichst ohne Schrecken und ohne Verlust des eigenen Weltgefühls, wollen geübt sein. Rituale können beim Abstieg vom eigenen Zauberberg helfen. Etwas Handfestes sollte es sein. Zum Beispiel weg von sich selbst auf andere blicken oder, noch besser, etwas für andere tun. Es muss ja nicht immer nur um mich selbst gehen. Trotzdem, von Zeit zu Zeit suche ich ihn gerne auf, meinen ganz persönlichen Zauberberg.
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