Visionsarmut

11. Januar 2025 | 0 Kommentare

Haben wir privat, aber auch kollektiv-politisch noch große Erwartungen, oder richtet sich unser Sinnen und Trachten in erster Linie auf das Bewahren und vielleicht ein bisschen auf das Verbessern unseres Status quo? Brauchen wir überhaupt Visionen für die Zukunft, oder gilt der alte, Helmut Schmidt zugeschriebene Satz „wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen“? Zumal, wenn es den meisten doch ganz gut geht?

Fragt man etwa die Schriftstellerin Juli Zeh, den Journalist Ullrich Fichtner oder den Soziologen Andreas Reckwitz, leben wir in visionsarmen Zeiten. Manche mögen das gut finden, allerdings hat auch die Visionsarmut ihren Preis. Zukunft wird – zumal in einer älter werdenden Gesellschaft – von vielen nicht mehr als Ort der Verheißungen erlebt, sondern der Blick nach vorne ist häufig von Verlustängsten und von Mutlosigkeit beeinträchtigt. Das Prinzip Hoffnung gilt nicht mehr, die Grundstimmung ist antivisionär. Es fehlen große Erwartungen und eine „Zukunftserzählung“, wie die Welt eine bessere werden kann. Stattdessen erschöpfen sich visionäre Kräfte heute nur zu oft in rückwärtsgewandter Sehnsucht und Metaphorik, dass die Welt endlich wieder so werde, wie sie früher in Wahrheit nie war. Rechtspopulisten und der Ruf „make America great again“ zehren von solchen rückwärtsgewandten Visionen. 

Visionsarmut wird ganz unterschiedlich erlebt. Politisch herrscht günstigstenfalls der Geist des Pragmatismus und der Nüchternheit. Gut, dass wir im 20. Jahrhundert, zum Beispiel von Karl Popper, gelernt haben, dass Hoffnungen nie zur Zwangsbeglückung anderer missbraucht werden dürfen. Das ist aber nur die eine Seite. Andererseits führt die seit langem diagnostizierte Erschöpfung utopischer Energien zum Zukunftsverlust, den Andreas Reckwitz beispielhaft so beschreibt: „Nicht die verschwundenen Industriejobs sind das Problem – sondern der fehlende Glaube, dass sie durch andere, bessere Jobs ersetzt werden.“ Folgerichtig reden wir vor allem über Verluste, nicht über Fortschritte. Ullrich Fichtner kehrt deswegen den Satz über Politik und Visionen um: „Wer keine Visionen hat, sollte sich von der Politik unbedingt fernhalten, und vielleicht besser Arzt werden. Oder Beamter.“ 

Ohne den Blick nach vorn und ohne Zuversicht gibt es keine Visionen, privat nicht und politisch nicht. Und vielleicht stoßen manche reaktionären Visionen von Extremisten und politischen Wirrköpfen, wie beispielsweise die der Reichsbürger, genau in die Lücke, die die aufgeklärte und liberale Sachlichkeit einer visionsarmen Gegenwartspolitik erst geschaffen hat. Niemand steht in den letzten Jahrzehnten in unserem Land wohl mehr für diese lange erfolgreiche, aber visionsarme Sachlichkeit als Angela Merkel, mit Ausnahme vielleicht ihres Satzes „wir schaffen das“. Der Satz zeigt das grundlegende Problem von Visionen: Sie können die Bevölkerung spalten (so selbst bei Willy Brandt mit seiner Ostpolitik, die keinesfalls von allen gutgeheißen wurde), und sie sind immer enttäuschungsanfällig und riskant. Das erfahren gerade auch die GRÜNEN mit ihrer Energiewende. Gut gemeint ist eben noch lange nicht gut gemacht. Sicherer ist es in jedem Fall gar keine Visionen zu haben. Das mag man tragisch nennen, aber die Wirklichkeit ist nun mal aus ziemlich hartem Stoff. An ihr vorbei müssen Visionen scheitern. Andererseits: Wenn Visionen nicht über die Wirklichkeit des Vorhandenen hinauszielen, wären sie keine Visionen. Realitätssinn und visionäre Kraft müssen zusammengehen, damit eine gute Zukunft daraus erwachsen kann. Der letzte große Visionär der deutschen Politik war wohl, ob man ihn nun mochte oder nicht, Helmut Kohl (Europa, Wiedervereinigung, blühende Landschaften). Heute ist die Lage wohl auch deswegen so visionsarm, weil wir von schier unlösbaren Problemen umzingelt sind. Kriege, Klimakrise, schwächelnde Wirtschaft, Erstarken antidemokratischer Kräfte überall usw. Politik erschöpft sich häufig im Abwehrmodus und in Mutlosigkeit, Aufbruchstimmung Fehlanzeige. 

Wo kommen die politischen Visionen her, die uns antreiben? Ein kollektiver Leidensdruck gehört wohl immer dazu. Vielleicht sind visionsarme Zeiten deswegen sogar ein Indikator dafür, dass es eigentlich ganz gut läuft. Die Schweiz mag dafür als Beleg stehen – unaufgeregt und eher visionsschwach (ausgenommen beim Schutz der Natur), aber äußerst erfolgreich. Derzeit stehen in vielen europäischen Staaten rückwärtsgewandte Visionen hoch im Kurs. Manche sind alles andere als harmlos, zum Beispiel rassistische und antidemokratische Ansätze. Zukunftsvisionen, die auf eine wirklich neue humane und ökologische Qualität zielen, ohne die Wirklichkeit darüber auszublenden oder die Demokratie in Frage zu stellen, sind demgegenüber Mangelware. 

Ich meine: Es braucht in freiheitlichen Gesellschaften gerade auch heute die große Erzählung, ein Bild von Zukunft, wie wir friedlich, sicher, frei und lebensfroh in einer gefestigten Demokratie zusammenleben können, auch mit der Natur. Und es braucht Bürger und Politiker beiderlei Geschlechts, die persönlich dafür einstehen und gegen alle Widerstände der Wirklichkeit, aber mit Realitätssinn und visionärer Kraft überzeugen. Wo das nicht der Fall ist, entstehen gefährliche Lücken, die die Gegner der freiheitlichen Demokratien bereitwillig ausfüllen.

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