Gelebte Fülle bedeutet das Gegenteil von Mangel, Leere und Einsamkeit. Fülle ist nicht identisch mit Glück, sondern kann auch weniger glückliche Seelenzustände umschreiben. Es geht eher um Teilhabe und um ein Dransein am Leben als Ganzes, um Lebensfülle in seiner vollen Breite, auch in den weniger schönen Bezügen. Wie macht man das, dass das Leben auch bei mir ankommt und nicht das Gefühl überwiegt, die Dinge berühren mich gar nicht? Trotz aller Anstrengungen und trotz allen Einsatzes antwortet die Seele manchmal nur gelangweilt oder schlimmstenfalls auch gar nicht. Herzensleere ist der erste Schritt in die existenzielle Einsamkeit.
Von dem Gefühl innerer Leere bedroht versuchen viele, ihre Erlebnisdichte zu steigern. Sie erhöhen ihre Lebensgeschwindigkeit in der Hoffnung, dass dadurch mehr Welt bei ihnen ankommt. Andere richten den Blick stärker nach Innen. Die Achtsamkeitsbewegung, Yoga und Meditation oder die bewusste Pflege von Empathie stehen dafür. Allerdings bietet beides keine Garantie für inneren Widerhall. Innere Fülle bleibt trotz vielfältiger Anstrengungen häufig aus. Man kann sie nicht erzwingen oder kaufen. Fülle bedeutet auch nicht Aktionismus oder die Aneinanderreihung von Erlebnissen, sondern ein Gefühl des Getragenseins mitten im Leben, ohne große Worte und ohne Erklärungsbedarf. Es geht eher um das fundamentale und frag-lose Gefühl „alles ist irgendwie richtig“, bei dem man sich als lebendig, präsent, offen, verbunden und empfindungsstark in der Welt wahrnimmt.
Zur Fülle kann es auch gehören, sich selbst als Teil von etwas Größerem zu erleben, eingebettet in das Leben, jenseits von Konkurrenz, Vergleich und Wettbewerbsstreben. Fülle kann man nicht haben, sondern nur in ihr sein. Resonanz und Beziehungsqualitäten spielen dafür eine große Rolle, allererst ob ich überhaupt eine Beziehung – zu Menschen, Natur und Dingen – aufbauen kann.
Weil Fülle über mich selbst hinausweist, kann man sie auch nicht einfach herstellen oder planen. Die Unruhe des Herzens und der Wille, der eigenen Leere zu entkommen, garantieren keine Fülle. Damit sie gelingt, muss das Leben selbst uns entgegenkommen. Sie entsteht, wo wir das Gefühl haben, ergriffen zu werden – von der Natur, von der Schönheit, von Gott oder einer spirituellen Kraft außerhalb unserer selbst. Der Philosoph Charles Taylor erkennt in der Fülle deswegen das zentrale Element für jede religiöse, nicht notwendigerweise christliche Grundausrichtung der Existenz, die über den Individualismus moderner Gesellschaften mit ihrem „selbstgenügsamen Humanismus“ weit hinausweist. „Es geht um das Gefühl, hier gebe es einen Wert, der höher ist als das menschliche Gedeihen und der über dieses Gedeihen hinausgeht. … Unser Leben reicht weiter als dieses Leben.“ (Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 45).
Wie kann man Fülle erlangen? Bewusst und gewollt wahrscheinlich gar nicht. Manche mögen das Glück vielleicht durch Geschicklichkeit erringen oder manchmal sogar erzwingen, meinen jedenfalls Niccolo Machiavelli oder Udo Lindenberg. Mit der Fülle verhält es sich dagegen völlig anders. Wir können sie nicht selbst herstellen, und wenn wir sie fühlen, kann dieses Gefühl auch schlagartig wieder weg sein. Was Fülle genau ist, lässt sich überdies schwer in messbaren Kategorien erfassen. Glück können die Glücksforscher heute messen – es gibt sogar regelmäßig einen Glücksatlas -, Fülle dagegen nicht. Das macht den Begriff so sperrig und so unmodern: Warum sich mit etwas befassen, das man nicht in der Hand hat und dem man ausgeliefert ist?
Vielleicht genau darum. Es könnte ein fundamentaler Irrtum der modernen Glücksbestrebungen sein, dass sie auf Herstellbarkeit und die richtige Methode setzen. Glück als Lebenstechnik – „jeder ist seines Glückes Schmied“ -, die man ein Stück weit erlernen kann, hat sicherlich eine Berechtigung. Fülle ist aber etwas anderes. Sie kann man mit der richtigen Technik nicht erlangen oder erlernen. Fülle ist auch kein Produkt von Tüchtigkeit oder Leistung. Hier helfen verschiedene Terminologien der Religionen deutlich weiter. Dort findet man viele Bilder und Begriffe dafür, dass Fülle unverfügbar ist, dass wir sie nicht bewirken können und darauf angewiesen bleiben, dass sie uns zuteilwird und uns nicht wieder abhandenkommt.
Dieser Befund ist einerseits ernüchternd. Alles persönliche Abstrampeln stößt bei der Suche nach Fülle an Grenzen. Andererseits können diese Grenzen aber auch tröstlich sein. Dass wir nicht alles bewirken können, schon gar nicht die Fülle, unterscheidet uns von Göttern und von Superhelden. Was also können wir tun?
Nach Fülle kann man nicht eigentlich streben. Aber man kann auf sie hoffen, die Hoffnung auf die Fülle nicht aufgeben, nach den Spuren von Fülle im Leben suchen und sie im Herzen bewahren. Wer die Fülle will, muss ein guter Spurensucher sein. Der Dreiklang von hoffen, suchen und bewahren zeigt in die richtige Richtung.
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