Hauptsache gemütlich

10. November 2023 | 0 Kommentare

Um das Wort Gemütlichkeit beneiden uns manche Ausländer, weil es das in ihren Sprachen gar nicht gibt. Auch ähnliche Begriffe, wie beispielsweise das Dänische HYGGE, meinen nicht genau das Gleiche. Und erst recht beneiden uns andere um das, was wir damit verbinden – Weihnachten und Weihnachtsmärkte zum Beispiel, bestimmte Gerüche, aber auch ein gemütliches und „anheimelndes“ zu Hause. Gemütlichkeit ist ein sehr deutscher Sehnsuchtsort, mit leicht utopischem Beiklang. Dabei ist Gemütlichkeit viel mehr als ein Gefühl. Es ist ein glücksnaher Seelenzustand, eine Form des In-der-Welt-Seins, die nach Ruhepol und nach Geborgenheit in einer unsicheren Welt klingt, nach Aufgehobensein, Behaglichkeit und Herzlichkeit. Die hässlichen Seiten der Welt bleiben dabei draußen vor der Tür. Notfalls kann man es sich sogar alleine gemütlich machen, aber schöner ist es, diesen Zustand mit anderen zu teilen. Entsprechende Bilder geraten mitunter zwar etwas süßlich, manchmal auch puppig oder spießig, und gerne auch alkoholfreudig – „ein Prosit der Gemütlichkeit“. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den Vorstellungen von Gemütlichkeit oft etwas Verheißungsvolles mitschwingt, das uns an das Glück der Kindheit erinnert. Da, wo es gemütlich wird, ist das verlorene Paradies immerhin ein bisschen greifbarer als sonst. 

Und weil das so ist, bleibt Gemütlichkeit immer auch zwiespältig, jedenfalls aber zerbrechlich, und sie kann nach hinten losgehen. Wir kennen das von Weihnachten. Erst freuen sich alle darauf, aber nach ein paar Tagen reicht es dann und man geht sich auf die Nerven. Als herbeigezwungener Dauerzustand kann Gemütlichkeit regelrecht zum Psychoterror mutieren. Heinrich Böll hat das in seiner Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“, bei der eine Familie sich ganzjährig täglich zur Weihnachtsfeier versammeln muss, satirisch auf die Spitze getrieben. Ungeachtet solcher Umschlagspunkte hat Gemütlichkeit gerade in schwierigen Zeiten Konjunktur. Wo Krieg, Zerstörung, Vertreibung und Flucht, Hunger, Krankheiten und Klimakatastrophen die öffentlichen Bilder prägen, steigt bei vielen das Bedürfnis nach Gemütlichkeit. Verstärkt wird diese Sehnsucht durch das eher resignative Gefühl, dass man ja sowieso nichts machen und schon gar nichts ändern kann. Je mehr die Welt uns überfordert, um so stärker wünschen wir uns in die Schutzzone der Gemütlichkeit hinein. Dieser Wunsch wird hier keineswegs kritisiert. Er wirft aber die Frage auf, ob wir uns glückstechnisch gesehen eher in die Richtung des „Rückzugs ins Private“ bewegen. Wir kennen das – wenn auch unter politisch und gesellschaftlich ganz anderen Vorzeichen – beispielsweise aus dem Biedermeier oder auch aus der späten DDR, Stichwort „Nischengesellschaft“. Man sucht das Glück umso stärker in der privaten Welt, je bedrückender wir die öffentliche Welt erleben. Einige Soziologen und Sozialpsychologen bescheinigen uns politische Erschöpfung, vielleicht sogar kollektive Hoffnungslosigkeit und Zukunftsangst. Und tatsächlich dürften viele Menschen das politische Lebensgefühl teilen „so kann es nicht weitergehen“. Allerdings ziehen sie ganz unterschiedliche Schlüsse daraus. Die einen werden zu Wutbürgern oder radikalisieren sich, andere schlussfolgern „machen wir es uns eben zu Hause gemütlich“. 

So verständlich dieser Wunsch sein mag, zeigt er auch eine Risikozone auf. Gemütlichkeit kann in Blindheit und Selbstzufriedenheit umschlagen, erst recht, wenn sie mit Wohlstand verknüpft ist, ungefähr so: Uns geht´s doch gut, habe ich mir verdient, lass ich mir von niemandem vermiesen, unangenehmes ausblenden und ungestört genießen. Welt, lass uns in Ruhe. Wir genügen uns selbst. Hauptsache gemütlich. Und schon sitzen wir in der Gemütlichkeitsfalle

Keine Frage, wir alle brauchen Rückzugsräume, Ruhezonen und Auszeiten von der Wirklichkeit, insbesondere wenn sie uns – öffentlich oder privat – hässlich und fürchterlich begegnet. Kritisch wird es meines Erachtens dann, wenn wir alles das, was eben nicht gemütlich ist, ausgrenzen und die Begegnung damit vermeiden. Das gilt für Themen, aber auch für Menschen. Der Preis dafür ist kein geringer. Im Extremfall bedeutet Gemütlichkeitskult Weltverlust und Isolation. Die Wirklichkeit lässt sich aber nicht betrügen oder beliebig umdeuten. Sie holt uns immer wieder ein, privat, aber auch politisch, erst recht in einer globalisierten Welt. Das Ausblenden der unangenehmen Themen und die Flucht in die Gemütlichkeit helfen allenfalls auf Zeit. Auch wenn wir nicht immer etwas ändern können: Manchmal können wir mehr tun als wir meinen, privat und öffentlich. Dafür gibt es viele Bühnen: Gespräche, Versammlungen und Kundgebungen, gesellschaftliches (Ehrenamt) und politisches Engagement, Leserbriefe, Diskussionen, für manche das Gebet, und ganz allgemein ein Beitrag zur Lösung eines Problems, und sei es noch so klein. Das soll niemandem den Weihnachtsmarkt vermiesen. Erhobene moralische Zeigefinger gibt es mehr als genug in unserem Land. Bei aller Sehnsucht sollten wir uns aber die Offenheit für die Welt und die Menschen bewahren, wie sie nun mal sind, das aushalten und so gelassen wie möglich ertragen – auch dann, wenn es ungemütlich wird. Darauf einen Glühwein.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken