Wieviel Moral oder Ethik – zwischen beiden wird selten deutlich unterschieden – ist gut? Insbesondere: Wieviel Moral braucht die Politik, welche ethischen Maßstäbe sollen gelten? Ist beispielsweise die Frage des Schnitzelverzehrs eine moralische Frage?
Einige werden alleine schon diese Fragen als unsinnig zurückweisen, weil es aus ihrer Sicht nur eine einzige und unbedingt verbindliche Moral gibt, und zwar auch für das Schnitzel. Tatsächlich existiert aber nicht nur die eine Moral, sondern eine ganze Reihe unterschiedlicher, miteinander durchaus konkurrierender „Moralen“ – und dementsprechend unterschiedliche moralische Maßstäbe. Geläufig sind beispielsweise Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, rigoristische Ethik oder utilitaristische Ethik. Überlagernd, aber nicht deckungsgleich hinzu kommen rechtliche Maßstäbe, insbesondere die aus unserer Verfassung.
Tatsächlich verändern sich moralische ebenso wie rechtliche Standards häufig im Laufe der Zeit. Das gilt auch im öffentlichen Raum. Nicht nur rechtliche Maßstäbe werden permanent verfeinert, sondern auch die moralischen Ansprüche sind in den letzten Jahren massiv angestiegen – zB bei Fragen der Generationengerechtigkeit, der Klimagerechtigkeit, der Geschlechtervielfalt, des Genderns, der kulturellen Aneignung, der Energieversorgung, der Migrantenströme, des (Alltags-) Rassismus und Kolonialismus, der Ernährung, des Tierwohls, des Naturschutzes, der Errichtung von Windrädern etc. Es gibt kaum einen Lebensbereich, an den nicht hohe moralische Messlatten angelegt werden. „Cancel culture“ oder Klimaleber sind nur zwei aus diesem moralischen Wachstum abgeleiteten praktischen Konsequenzen.
Moralisches Wachstum fühlt sich für viele attraktiv an. Wer das Recht und die Moral auf seiner Seite weiß, fühlt sich gleich doppelt gerechtfertigt. Ein wichtiger Effekt dieser Entwicklung: Sach- und Fachfragen werden dadurch zu moralischen Fragen umdefiniert und als solche diskutiert. Die Klimakrise werden wir allerdings mit noch so viel Moral kaum lösen. Was die moralisch besonders Aufgeklärten dabei häufig nicht sehen: Die Moralisierung nahezu aller Lebensbereiche führt in einer Demokratie zu einer riskanten gesellschaftlichen Verhärtung, in der es kaum mehr Zwischenzonen des politischen Handels im Sinne eines abwägenden „Mehr oder Weniger“ geben kann. Das gilt umso mehr, weil unsere Handlungsressourcen häufig nicht in gleicher Weise mit den moralischen Ansprüchen mitgewachsen sind.
Es ist deswegen wenig überraschend, dass die moralischen Maßstäbe in der Bevölkerung teilweise deutlich auseinanderlaufen und sich gesellschaftliche Gräben auftun. Die Frage nach dem korrekten Schnitzelverzehr ist da noch eines der harmloseren Themen. Das Wachstum der moralischen Ansprüche und eine daraus resultierende entschlossene Intoleranz einerseits bestärkt wiederum die anderen in ihrer tiefen Ablehnung und nicht minder entschlossenen Intoleranz. Sehr deutlich sieht man das in den USA, wo die auch in moralischer Hinsicht grobschlächtige Trump-Welt auf die filigranen moralischen Lebenswelten mit extrem strengen Maßstäben von „linken Eliten“ trifft, die insbesondere an den Universitäten gelten. Das vertieft die Gräben. Die Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Keine Frage, Streit gehört zur freiheitlichen Gesellschaft unbedingt dazu. Das gilt auch für moralische Fragen. Wir sollten uns allerdings vor moralischen Zuspitzungen hüten, wie sie derzeit auf manchen Gebieten zu beobachten sind. Vor allem sollten wir uns davor hüten, jede gesellschaftliche Streitfrage zu einer moralisch Auseinandersetzung hochzuzonen, bei der es letztlich nur noch ein apodiktisches „entweder – oder“ gibt. Es existieren dann nur noch Freunde oder Feinde. Das schadet unserer Gesellschaft und bringt uns möglichen Lösungen nicht näher. Um beim vergleichsweise harmlosen Schnitzelbeispiel zu bleiben: Mit der schrittweisen Verbesserung der Haltungsbedingungen für Tiere ist zwar nicht alles, aber doch eine Menge gewonnen. Dabei müssen schärfere moralische Standards und strengere rechtliche Regelungen Hand in Hand gehen. Dass moralische Standards häufig strenger sind als das geltende Recht, ist auch eine Bedingung des Fortschritts von Recht. Häufig sind bestimmte moralische Erwartungen von heute das geltende Recht von morgen. Das ist weder neu noch beunruhigend, ganz im Gegenteil. Zu warnen ist allerdings vor einer moralischen Überforderung der rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten und vor allem vor der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz einer elitären Moral. Für alle wäre wenig gewonnen, wenn besonders fortschrittliche Moralisten und eher traditionelle Kreise sich nicht mehr verständigen können. Den Preis dafür zahlen alle. Gestärkt werden dadurch die gesellschaftlichen Ränder. Das schlägt sich irgendwann auch im Wahlverhalten nieder. Daran kann die in unserem Land traditionell starke bürgerliche Mitte kein Interesse haben. Etwas weniger Moral wäre gerade heute durchaus hilfreich. Vor moral overkill wird gewarnt.
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