Dass die Welt weniger berechenbar ist als noch vor rund 15 Jahren, ist eine Binse. Wir erleben, dass uns viele vermeintliche Gewissheiten zwischen den Fingern zerrinnen. Das gilt im Großen, auf der politischen Bühne des Weltgeschehens – „von Freunden umzingelt“ war einmal -, aber auch in unserer kleinen persönlichen Welt. Auch wenn es den meisten von uns sehr gut geht: Vieles erscheint brüchiger, gefährdeter und unfriedlicher als früher. Die Illusion, dass man selbst irgendwie mitsteuern könnte, nimmt ab. Für eine Demokratie ist das nicht ungefährlich. Gewissheitsverluste führen zu Verunsicherung, und das macht vielen Angst. Das wiederum spielt radikalen Kräften in die Hände, die diese Verunsicherung nach Kräften bespielen, mit wachsendem politischem Erfolg, und das nicht nur in Deutschland. Aber nicht nur ehemals feste Gewissheiten verschwinden. Es beginnt bereits viel früher, nämlich beim Verstehen der Welt. Die Komplexität des gesamten Lebens hat enorm zugenommen. Dafür muss man nicht nur in die große Politik schauen, sondern es genügt ein Blick ins alltägliche Leben. Schon so triviale Dinge wie Bankgeschäfte, Internetnutzung oder der Umgang mit Behörden und Versicherungen können echte Herausforderungen darstellen. Und Besserung ist nicht in Sicht. Die Veränderungsgeschwindigkeit in unserer Welt nimmt beständig zu. Dass es in einer komplizierten Welt kein leichtes Verstehen, und erst recht keine einfachen Lösungen geben kann, liegt zwar auf der Hand. Aber viele sehnen sich gerade deswegen genau nach solchen einfachen Lösungen.
Gewissheitsverluste und Verstehensdefizite sind allerdings noch nicht alle Verlustposten. Schwer wiegen auch Vertrauensverluste in politische, staatliche und gesellschaftliche Institutionen, wie beispielsweise die Kirchen, sowie persönliche Orientierungsverluste – selbst das eigene Geschlecht ist zunehmend nicht mehr eindeutig. Die Generationen der Jetzt-Zeit sind vor die Herausforderung gestellt, mit wachsenden Unsicherheiten zu leben. Sicher ist, dass viele Dinge nicht so bleiben, wie sie sind. Verlustresistenz gehört allerdings nicht unbedingt zu unseren kollektiv gut ausgebauten Fähigkeiten. Wo überkommene Gewissheiten, Weltverstehen, Vertrauen und eigene Orientierung abnehmen, stellt sich umso drängender die Frage: An welchen Eckpunkten kann ich mich ausrichten, und woran kann ich mich festhalten, persönlich, gesellschaftlich und politisch? Hinzu kommt, dass viele Propheten des Untergangs derzeit kräftig ins Horn stoßen, insbesondere beim Klima, bei der Energieversorgung, beim Wohlstand oder beim Frieden. Das macht die Sache nicht besser. Orientierung bleibt Mangelware. Die Regierenden, vornehmlich der Bundeskanzler, leisten sie jedenfalls nicht, und den Kirchen laufen ihre Mitglieder davon. Aber nicht alle radikalisieren sich. Viele ziehen sich einfach zurück, manche eher resigniert bis depressiv, manche entschlossen in Zielrichtung private Glücksmaximierung: „Machen wir es uns eben zu Hause mit Familie und Freunden schön und gemütlich“. Wieder andere stürzen sich in einen eher beliebigen Aktionismus und eilen atemlos von Event zu Event. Orientierung und Sinn stiftet das zwar nicht unbedingt, aber immerhin das Gefühl, dass „etwas“ geschieht. Auch wenn das jetzt sehr holzschnittartig gezeichnet ist, sind die vier großen Verlustposten Gewissheiten, Weltverstehen, Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen und in die Zukunft sowie persönliche Orientierung kaum von der Hand zu weisen. Wo private Verluste noch dazu kommen, verschärft sich das Ganze. Wie kann man damit umgehen?
Ich schaue ein paar Generationen zurück. Meine Großmutter, Jahrgang 1902, hat mehrere Reiche, Republiken, Armut, Inflationen und nicht zuletzt zwei Weltkriege erlebt. Spätestens ab 1918 gab es keine Gewissheiten mehr, jedenfalls keine angenehmen. Sie wurde dennoch eine starke Frau. Als Kriegswaise hat sie unter großen persönlichen Verlusten und Entbehrungen ihre Familie gegründet und mit viel Energie und Klugheit lebenstüchtig gemacht. Eher der SPD zugeneigt, realitätsnah und nüchtern, ohne übertriebene Frömmigkeit, aber im christlichen Glauben verwurzelt, hat sie ihr Leben gemeistert. Die Zuversicht, gegen alle schlechten Wegzeichen der Zeit, von denen es in ihrem Leben eine Menge gab, war vielleicht ihre wichtigste Gabe. Das Gegenteil von Zuversicht ist Resignation. Oder Realitätsflucht. Zuversicht macht resilient gegen Verluste.
Was Zuversicht im Kern bedeutet, und vor allem: wo sie eigentlich herkommt, bleibt dennoch ein Rätsel. Martin Luther hat Zuversicht in das wunderbare Bild gesetzt: „Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen.“ Als Heute-Mensch frage ich mich: Woher nehmen Menschen die innere Kraft dazu, und was befähigt sie zur Zuversicht? Vielleicht sollten wir gerade in Zeiten abnehmender Gewissheiten viel mehr über die Quellen unserer Zuversicht und über unsere persönlichen Orientierungspunkte nachdenken, sie pflegen und gemeinsam darüber sprechen, ohne Radikalisierung, ohne Resignation, ohne Realitätsblindheit, und ohne die Flucht ins private Glück oder in die Beliebigkeit. Schade nur, dass ich meine Großmutter dazu nicht mehr befragen kann. Sie starb 1980. Sie war eine tolle Frau.
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