Kulturelle Aneignung

5. Februar 2024 | 0 Kommentare

Wenn es stimmt, dass die Fähigkeit zum Mitgefühl nicht nur die Wurzel aller Moral ist (Schopenhauer), sondern den Menschen erst zum Menschen macht, kommt es entscheidend darauf an, diese Fähigkeit zu schulen und zu entwickeln. 

Das Mitgefühl ist allerdings nicht auf einzelne Menschen beschränkt, sondern es kann weit darüber hinaus reichen und sich auf Gruppen, aber auch auf soziale Zusammenhänge, auf Texte, auf Kunst und ganze Kulturen erstrecken. Freilich spricht man dann eher von Empathie. Wer es versteht, sich in andere Menschen und Kulturen einzufühlen, kann die beglückende Erfahrung machen, das, was zunächst fremd erscheinen mag, besser zu erfassen, zu verstehen, vielleicht sogar schätzen zu lernen, und genau dadurch das Fremde zu überwinden und Zäune zu durchbrechen. Erst die Kunst des Verstehens und damit des sich in Menschen und Dinge Einfühlens öffnet andere Welten. Wer hingegen in allem stets nur das immer schon Be- und Erkannte sieht, erstarrt irgendwann im eigenen Biedersinn. 

Die Aneignung des Fremden durch die Kunst des Verstehens und der Empathie halte ich für eine fundamentale, aber bedrohte Kulturtechnik. Stets wurde sie durch den ewigen Spießer verurteilt, und neuerdings durch die sogenannte Identitätspolitik. Unter dem vorgeblichen Respekt für andere Lebensweisen und Lebensformen, insbesondere von Minderheiten, und der Heiligung des Fremden gilt kulturelle Aneignung als schwere Straftat oder als rassistisch. Insbesondere gelten Vermischung und Vermengung kultureller Attribute unterschiedlicher Herkunft als unrein, als moralisch unzulässige Herrschaftsausübung und Unterdrückungstechnik. 

Gerade kreative Prozesse beruhen aber sehr oft auf der Aneignung und Umarbeitung fremder kultureller Einflüsse. Das gilt für Musik, Kunst und Sprache, aber auch für andere geistige Prozesse und selbst für die Küche. Die allermeisten Kulturen mischen verschiedene Elemente, und nicht immer geschieht das respektvoll. Es gibt sogar Gattungen, die aus der Respektlosigkeit eine Kunst machen, Satire und Karikatur gehören dazu, auch der schwarze Humor von Monty Python (Das Leben des Brian) und nicht zuletzt der Karneval. Das Grelle und Überzeichnende muss man nicht immer gut finden, aber der Verzicht auf solche Formen bahnt den Weg in die Unfreiheit. Nicht umsonst stehen die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, aber auch die Kunstfreiheit unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes. 

Genau dies will die sogenannte Identitätspolitik abschaffen. Im Bewusstsein und in der Selbstzufriedenheit der eigenen moralischen Überlegenheit entsteht eine neue Lebensenge, die nicht verbindet, sondern auf Trennung und Reinheit der Formen besteht. Toleranz ist in dieser Welt nicht vorgesehen, sondern Verurteilung jeglicher Form der kulturellen Vermischung und Vermengung als rassistisch, ausbeuterisch, bevormundend und dergleichen mehr. 

Ich meine, dass auf diese Weise im Gestus moralischer Feinfühligkeit neue Gefängnisse errichtet werden, die zu Ende gedacht in der völligen Vereinzelung der Menschen landen werden, weil nur dann wahre Authentizität gewährleistet ist. Der Gestus identitärer Überlegenheit unterliegt damit einem doppelten Irrtum. Einerseits verkennt er, dass Fortschritt und Kreativität sehr oft von Anleihen leben, und andererseits denkt er seine Position nicht zu Ende. Nicht weltoffen und neugierig, sondern abgrenzend und verschlossen, nicht fröhlich und witzig, sondern empört und verurteilend schaffen Identitätsbesessene die offene Gesellschaft ab.

Dahinter steckt auch ein grundlegender Irrtum über die Freiheit. Freiheit ist kein Garant dafür, nie verletzt zu werden. In gewissem Umfang müssen wir alle, wenn wir friedlich zusammenleben wollen, die Freiheitsausübung der anderen erdulden, auch wenn es uns nicht passt und wir es nicht nur als lästig, sondern mitunter als verletzend empfinden. Andere dürfen uns bewerten, sich vielleicht sogar lustig über uns machen, sich unserer Sichtweisen und Symbole bedienen oder uns ablehnen, jedenfalls in gewissen Grenzen. Da, wo diese Grenzen zu eng gezogen werden, beginnt bald der Tugendterror. 

Ich rede damit ausdrücklich nicht der Freiheit das Wort, seinen Hass in den sozialen Netzwerken ungefiltert und ungestraft zu verbreiten, wohl aber einem mit Augenmaß betriebenen leben und leben lassen. Um die Einstellung dieses Augenmaßes geht es, und richtig ist auch, dass jede neue Generation das Recht hat, ihr Augenmaß neu zu justieren. Sicher sind wir in vielen Bereichen heute im Großen und Ganzen sensibler als vor 30 Jahren, was sich beispielsweise an der Witze-Kultur leicht ablesen lässt. Ostfriesenwitze, Blondinenwitze oder Türkenwitze sind heute nur noch peinlich und werden zu Recht als diskriminierend empfunden. 

Das Recht auf kulturelle Aneignung lasse ich mir deswegen aber nicht nehmen. Es ist eine Bereicherung und ein Glück, fremde Kulturen und Sichtwiesen aufgreifen und verarbeiten zu dürfen, selbst wenn das manchmal nur oberflächlich sein mag. Auch im Imitat kann ich nichts Schlechtes erkennen, zumal jedes Lernen zu Beginn ein Imitieren ist. Wer das nicht versteht und darin nur Unterdrückung und Niedertracht erkennt, wird bald ziemlich einsam sein. Und wie sich auf diese Weise echtes Mitgefühl für andere herausbilden kann, erschließt sich mir nicht.

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