Gelingen

18. März 2024 | 0 Kommentare

Unsere „innere Brille“ prägt unsere Sichtweise auf die Welt. Zu oft richtet sich der Blick dabei auf Negatives. Das färbt wiederum nach innen ab und fühlt sich dann so an: Das Wirkliche, beziehungsweise das, was wir für wirklich halten, ist das Negative. Die Themen und die Art und Weise, wie öffentliche Medien über unsere aktuelle Wirklichkeit berichten, lädt zu dieser verzerrten Perspektive regelrecht ein. Klimawandel, Kriege, Krankheiten und Katastrophen aller Art bilden dabei nur die Spitze des Eisberges. Bilder des Leidens, aber auch die Wahrnehmung, dass im öffentlichen Leben nicht mehr viel gelingt und die Probleme nicht gelöst, sondern nur verschoben oder allenfalls zögerlich angegangen werden, haben sich in den Köpfen festgesetzt. Das gilt auch im Privaten. Dort spüren wir steigende Preise und Zinsen, zu heiße Sommer, Versorgungsengpässe – zum Beispiel bei Medikamenten, Arbeitskräftemangel, nicht funktionierende Verkehrssysteme, Wohnungsnot, fehlendes Modernisierungstempo usw. Tatsächlich gibt es zahlreiche Gelingensstörungen, im Kleinen wie im Großen. Davon erzählen wir alle gerne. Dabei ist die Fokussierung auf das Misslingen zutiefst ungesund. Auf Dauer erschöpft sie das Selbst, macht unfroh und resignativ, in anderen Fällen auch aggressiv, sie beschädigt soziale Gemeinschaften und den Gemeinsinn. 

Einige haben die zerstörerische Wirkung des negativen Blicks inzwischen erkannt und betreiben deswegen informationellen Konsumverzicht durch „Nachrichtenfasten“. Was manche als Rückzug ins Private kritisieren, hat bei Lichte betrachtet durchaus einen rationalen Kern. Warum soll ich mich mit Dingen belasten, auf die ich doch keinerlei Einfluss habe und die mir nur den Tag versauen? Umso drängender stellt sich die Frage: Wo bleibt das Gelingen? Der Blick darauf ist uns leider ziemlich verstellt. Die negative innere Brille macht, dass wir das Gelingen oft gar nicht mehr wahrnehmen. Und wo die Dinge nicht wahrgenommen werden, wird erst recht nicht darüber gesprochen. Hinzu kommt, dass es viel einfacher ist über Negatives zu sprechen als über Positives. Das Negative hat seine eigene Evidenz. Es erscheint häufig weniger begründungsbedürftig als das Positive und wird oft auch noch aufgeklärt-kritisch verpackt. Außerdem bleibt das Negative viel stärker im Gedächtnis haften. Daneben gibt es auch noch eine Art psychischen Sekundärgewinn. Es kann enorm verbindend sein, wenn man sich gemeinsam über alle möglichen Missstände aufregt. Negativität schafft, jedenfalls vordergründig, soziale Einigkeit, nicht nur unter Wutbürgern. 

Dabei liegt es auf der Hand, dass wir viel mehr vom Gelingen sprechen und uns gegenseitig davon erzählen sollten. Das hat nichts mit Naivität zu tun, sondern eher mit psychischer Gesundheit. Dafür müsste man sich allerdings erst einmal von der eigenen negativen Brille befreien. Und außerdem: Wie kann man vom Gelingen erzählen, ohne deswegen einfältig oder konkurrenzbewusst-auftrumpfend zu erscheinen? Und selbst ohne nerviges Triumphgehabe muss der Betroffene in unserer Gesellschaft den Neid der weniger Glücklichen fürchten. Zeigt: Es kann durchaus sozial riskant sein, aus dem gängigen Erzählmodus der Negativität auszubrechen.

Und dennoch, die Ödnis der negativen Brille muss überwunden werden, im Interesse jeder und jedes Einzelnen, aber auch der Gesellschaft als Ganzes. Wie kann das gelingen? Ein möglicher Ansatzpunkt ist die Ja-Aber-Methode. Ja, es stimmt, vieles ist wirklich nicht so, wie es sein sollte. Aber vieles ist auch bei Weitem nicht so schrecklich und so hoffnungslos, wie es häufig, mit entsprechendem „Framing“ durch Wort, Bild und Ton unterlegt, medial verkauft wird. Die Fakten sprechen mitunter eine ganz andere Sprache. Maß nehmen sollten wir an Pionieren des klaren Denkens, beispielsweise an Steven Pinker oder Hans Rosling („Factfulness“). Die Verbesserung von Luft- und Wasserqualitäten, die Bekämpfung von Ozonloch und saurem Regen, die schnelle Entwicklung von Corona-Impfstoffen sind Erfolgsgeschichten.  Die gibt es ganz oft auch in kleineren Maßstäben, zum Beispiel bei der Entwicklung neuer effizienter Heizsysteme auch für Altbauten. Davon sollten wir jedenfalls auch erzählen, und nicht zuletzt die ganz persönlichen Geschichten des Gelingens. 

Es geht nicht darum, Misslingen und Leid einfach zu ignorieren und auszublenden. Wohl aber geht es um Gegengewichte zum herrschenden Erzählmodus des Misslingens, um den einseitig-negativen Blick positiv zu ergänzen und zu korrigieren. Nur so haben wir auch die Chance auf ein angemessenes Bild von Wirklichkeit, was in einer Demokratie absolut „systemrelevant“ ist. Im eigenen Bekanntenkreis kann man danach fragen, was gut läuft.  Und wenn Sie mal wieder an eine Person der erregten Negativität geraten, versuchen Sie es mal mit der Ja–Aber-Methode. Erwarten Sie nicht unbedingt Zustimmung oder gar ein Umdenken bei Ihrem Gegenüber, aber tun Sie es mindestens für sich selbst, als Akt seelischer Hygiene und Gesundheit. Lasst uns mehr vom Gelingen erzählen – und darauf vertrauen, dass es genug Menschen gibt, die ebenfalls Geschichten vom Gelingen erzählen können.

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