Glück oder Unglück im Leben – alles nur Zufall? „Es gibt keinen Zufall“, so lautete die Formel meines schon in den 1970er Jahren irgendwie aus der Zeit gefallenen Deutschlehrers. Auch gläubige Menschen sehen das mitunter so. Wo alles, und sei es auf noch so verschlungenen Wegen, auf einen göttlichen Plan zurückzuführen ist, mag es zwar einen signifikanten Mangel an menschlicher Erkenntnis geben, aber keinen Zufall. Uns Heutigen fällt es hingegen schwer, an einen zufallsbereinigten göttlichen Weltenplan zu glauben. Trotzdem mögen wir den Zufall nicht. Dafür gibt es Gründe.
Der Alltagserfahrung entspricht es zunächst, dass die Welt uns oft im Zufallsmodus begegnet. Das ist nicht immer angenehm. Heute spricht man dabei allerdings eher von Kontingenz. Dabei geht es um die Erfahrung der Beliebigkeit, um verwirrend viele Möglichkeiten und um die Unberechenbarkeit des Lebens. Alles könnte so oder so, oder doch auch ganz anders sein. Im Möglichkeitsmodus zu existieren ist anstrengend. Darin ist das Unheimliche, Verstörende und Beunruhigende des Zufalls noch aufbewahrt. Denn hinter der Einsicht in die Zufälligkeit der Existenz lauert in Wahrheit stets die Angst. Wo der Zufall als solcher erkannt wird und zuschlägt, ist Schluss mit Selbstwirksamkeit (früher benutzte man dafür gerne das Wort Selbstverwirklichung), und zwar selbst dann, wenn es gut geht. Bei Lichte betrachtet ist der Zufall eine narzisstische Kränkung, denn wenn letztlich der Zufall über mein Glück oder Unglück, über meinen Platz im Leben, über Gelingen und Misslingen entscheidet, macht mich das hilflos. Am besten wissen das vielleicht die suchthaften Spieler. Wo der Zufall regiert, ist es immer möglich zu gewinnen. Genau darauf hoffen alle Spieler, gegen alle Vernunft.
Im Unterschied zum altmodisch religiösen Menschen und zum Spieler setzt der moderne Mensch auf die Überwindung des Zufalls aus eigener Kraft. Die Erfahrung des Ausgeliefertseins an ein nicht planbares Schicksal steht im radikalen Gegensatz zum modernen Streben, das Leben in all seinen Bezügen zu beherrschen und zu gestalten. Zufall bedeutet dagegen Kontrollverlust. Es gilt deswegen, im eigenen Leben nichts dem Zufall zu überlassen. Dafür gibt es verschiedene Methoden. Am gängigsten dürfte die moderne Leistungsideologie sein. Nach Michael J. Sandel ist es geradezu ein Kennzeichen von Wohlstandseliten, dass sie ihren Erfolg vor allem auf ihre eigene Leistung zurückführen und dabei das Zufällige ihrer eigenen günstigen Lebensposition ausblenden. Sie sind der Meinung, dass ihr Erfolg ihnen aufgrund ihrer Leistung unbedingt zustehe. Diese Form des Leistungsdenkens hat tiefe Wurzeln und ist keineswegs auf die Wirtschaft beschränkt, sondern sie erfasst alle Weltbezüge. Wohlstand, Status, Gesundheit und selbst jede Form von Sinn sind für den modernen Menschen in erster Linie Produkt seiner eigenen Anstrengung. Gelingen, Glück und Erfolg sind für ihn gerade nicht zufällig, sondern die wohlverdiente Konsequenz des eigenen Handelns. „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Das macht nicht nur selbstbewusst, sondern es zieht der Macht des Zufalls auch den Stachel: Leistung besiegt Schicksal.
Im Umkehrschluss heißt das allerdings auch, wer es nicht schafft, ist selbst daran schuld. Unglück und Leid sind in der Leistungsideologie nicht zufällig verteilt, sondern konsequente Zuweisungen aufgrund eigenen Handelns. Von den Wohlstandseliten gerne übersehen wird dabei die Zufälligkeit der eigenen Start- und Lebensbedingungen. Der Zugang zu lebenswichtigen Gütern, zu Bildungschancen, zu Gesundheit, zu sozialen Kompetenzen und natürlich zu Vermögen und vielem mehr sind von Anfang an völlig ungleich verteilt. Der eine wird ohne eigenes Verdienst in eine reiche Existenz hineingeboren, die andere in ein hoffnungsloses Umfeld ohne die Chance eines Ausweges. Manches ist im historischen Schnitt zwar besser geworden, aber im Kern bestimmt der Zufall immer noch die Existenz. Nun wäre es vollkommen utopisch, die Startbedingungen der Menschen auf null setzen zu wollen. Darum kann es nicht gehen. Aber wo das Bewusstsein für die Zufälligkeit auch der eigenen menschlichen Existenz fehlt, fehlt nicht nur eine grundlegende Voraussetzung für die Solidarität der Starken mit den Schwachen. Leider stehen dadurch auch die Bedingungen gut, menschliche Monster hervorzubringen, die sich durch Überheblichkeit, Selbstgerechtigkeit und den unbedingten Willen zu grenzenlosem Spaß und Genuss definieren. Wer den Zufall im eigenen Leben nicht erkennt und nicht anerkennt, und zwar gerade auch dann, wenn das Schicksal es gut mit einem meint, wird mit Demut, mit Bescheidenheit, Dankbarkeit und mit einem Gefühl der Verpflichtung für andere, die weniger Glück hatten, nichts anfangen können. Selbst im Lande der „unbeschränkten Möglichkeiten“ war diese Selbstbindung der Eliten einmal prägend, wofür zum Beispiel der Name Andrew Carnegie steht.
Ich meine, es ist grundverkehrt, den Zufall bezwingen zu wollen. Die Einsicht in die Zufälligkeit unserer eigenen Existenz ist nichts, was es zu überwinden gilt, ganz im Gegenteil. Sie zeigt uns, dass wir vieles nicht im Griff haben, und sie kann uns bescheidener, mitfühlender und menschlicher machen. Wir brauchen dringend mehr Respekt vor dem Zufall!
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