Nobeltreff

5. Mai 2024 | 0 Kommentare

Eine Party in einem teuren Club, ein Lied, Ausländer raus, ein paar Bilder, stilisiertes Hitlerbärtchen. Hoch schlagen die Empörungswellen. Tut man den jungen Leuten in diesem kurzen Video unrecht, weil sie beim Feiern vielleicht nur etwas über die Stränge geschlagen sind? Schauen wir genauer hin. Wir sehen junge Leute, ausgelassen, heiter und beschwingt, keine brutalen Dumpfbacken, keine abstoßenden Naziopas, keine gewaltbereiten Kämpfer. Ein bisschen schnöselig, aber naja. Ein Problem ist der Drehort Sylt. Das gleiche Lied in einer Vorstadtkneipe, auf irgendeiner Kirmes in der Provinz oder im Osten unseres Landes löst keine Wellen öffentlicher Empörung aus. Anders im Nobeltreff. Tatsächlich bleibt das Bild verstörend. Genau genommen sehe ich, ohne jede rechtliche Würdigung, vier Bilder. 

Erste Bildeinstellung: „Schampusnazis“. Überheblichkeit, die sich auf den eigenen Wohlstand gründet, wo immer er auch herkommen mag, getragen von der Grundüberzeugung: Das haben wir uns alles verdient und das steht uns zu. Uns geht´s prima, da können wir es uns auch mal erlauben „Ausländer raus“ zu singen. Ist doch lustig. Wir sind wir, uns gehört dieses Land. So weit, so bekannt. Diese Art des Selbstvertrauens stößt ab. Eine Ursache für die Empörungswelle dürfte die Wut auf die Überheblichkeit dieser Sorte von Reichen sein.  

Zweite Bildeinstellung: Erschreckende ökonomische Dummheit, und damit einhergehend akuter Realitätsverlust. Wohlstand schützt vor Blödheit nicht. Unsere Wirtschaft ist in allen Bereichen auf Ausländer angewiesen. Ohne Ausländer liefe in unserem Land, in dem ohnehin vieles nicht gut läuft, gar nichts mehr. Krankenpflege, Bauarbeiten aller Art oder Verkehrssysteme, um nur ein paar Beispiele zu nennen, würden komplett zusammenbrechen. Wir brauchen Ausländer dringend, und selbst bei der Bundeswehr denken manche über ausländische Soldaten nach. Wie dämlich muss man sein, um das nicht zu sehen? 

Dritte Bildeinstellung: Moralische Verwahrlosung. Moralisch feste Koordinaten fehlen hier offensichtlich. Entgrenzungen erleben wir derzeit einige. Rassismus wird wieder hoffähig, nicht nur auf Sylt, was vor allem durch eine politische Partei verbreitet wird. Ausländer raus heißt im new speak dieser Leute Remigration. Und Antisemitismus – keinesfalls zu verwechseln mit Kritik am Staat Israel – kommt bei einigen auch wieder in Mode. Die Zukunft wird für diese Leute durch eine zwar nicht neue, aber doch ganz andere Moral definiert: „Deutschland den Deutschen.“ Wie geht es jetzt weiter? Nach der ersten Welle kollektiver Empörung – ob das Verbot des missbrauchten Liedes wirklich hilfreich ist, wird sich zeigen – setzt jetzt im öffentlichen Diskurs ein anderer Reflex ein: Die Empörung über die Empörung. Man liest über „maximalen Ausschlag auf dem Empörometer“ und über „bundesrepublikanische Rudeldresche“. Manche wittern Hysterie, Hordendynamik oder ein Abladen von kleinkariertem Neid gegen die Reichen. Andere beklagen die moralischen Ungleichgewichte dieser Empörungswelle, also dass die öffentliche Aufregung in mindestens ebenso wichtigen Fällen ausbleibt, zum Beispiel bei antisemitischen Vorfällen oder bei islamistischen Verbrechen. 

Jenseits solcher Eingrätschungen bleibt ein hässlicher Sachverhalt übrig. Es geht um Leute, die es eigentlich besser wissen sollten. Privilegierte, die die Grundlagen unseres Gemeinwesens (Kurzform: Menschenwürde, Artikel 1 Grundgesetz) absichtlich oder, was auch nicht viel besser ist, in gedankenlosem Amüsiermodus über Bord werfen. Empörungsrituale alleine helfen zwar nicht, aber Entschiedenheit und eine klare Linie gegen solche Verwerfungen schaden unserem Land keineswegs. Das gilt nach innen und außen. Wie wichtig eine klare Grenze zu allem nazinahen Denken ist, zeigt im Übrigen, dass selbst rechtsextreme Parteien aus unseren Nachbarländern im Europaparlament die Zusammenarbeit mit der AfD trotz ansonsten bestehender Gemeinsamkeiten aufkündigen. Wer unsere Vergangenheit ausblendet, disqualifiziert sich auch in Europa. Daran hat sich nichts geändert. Das öffnet den Blick auf die vierte Bildeinstellung: Historische Ignoranz. Wer glaubt, er könne in unserem Land auf einer Party von Schönen und Reichen mit lockeren Sprüchen mal eben einen raushauen, der irrt. Man muss wissen, woher man kommt, in welchem moralischen und historischen Kontext man lebt und wofür man steht. Gilt nicht nur im Nobeltreff, aber jedenfalls auch da.  

Eine ganz andere Frage ist es, ob die „öffentliche Hinrichtung“ der Betroffenen in den sozialen Netzen gerechtfertigt ist. Auch Idioten haben Rechte. Die Bilder waren nicht anonymisiert. Hier werden Personen regelrecht vernichtet, auch Namen sollen geteilt worden sein. Auf die spätere strafrechtliche Bewertung kommt es da schon gar nicht mehr an. Und von den sonst so sensiblen Datenschützern hört man auch nichts. So übel der Anlass, an dem es nichts zu beschönigen gibt, auch ist: Das ist eine Schieflage, und diese Schieflage besteht unabhängig vom konkreten Fall. Sie betrifft uns in Wahrheit alle. Unserer Freiheit tut man damit keinen Gefallen.

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