von Christof Gramm | Feb. 7, 2025 | Allgemein
Gelebte Fülle bedeutet das Gegenteil von Mangel, Leere und Einsamkeit. Fülle ist nicht identisch mit Glück, sondern kann auch weniger glückliche Seelenzustände umschreiben. Es geht eher um Teilhabe und um ein Dransein am Leben als Ganzes, um Lebensfülle in seiner vollen Breite, auch in den weniger schönen Bezügen. Wie macht man das, dass das Leben auch bei mir ankommt und nicht das Gefühl überwiegt, die Dinge berühren mich gar nicht? Trotz aller Anstrengungen und trotz allen Einsatzes antwortet die Seele manchmal nur gelangweilt oder schlimmstenfalls auch gar nicht. Herzensleere ist der erste Schritt in die existenzielle Einsamkeit.
Von dem Gefühl innerer Leere bedroht versuchen viele, ihre Erlebnisdichte zu steigern. Sie erhöhen ihre Lebensgeschwindigkeit in der Hoffnung, dass dadurch mehr Welt bei ihnen ankommt. Andere richten den Blick stärker nach Innen. Die Achtsamkeitsbewegung, Yoga und Meditation oder die bewusste Pflege von Empathie stehen dafür. Allerdings bietet beides keine Garantie für inneren Widerhall. Innere Fülle bleibt trotz vielfältiger Anstrengungen häufig aus. Man kann sie nicht erzwingen oder kaufen. Fülle bedeutet auch nicht Aktionismus oder die Aneinanderreihung von Erlebnissen, sondern ein Gefühl des Getragenseins mitten im Leben, ohne große Worte und ohne Erklärungsbedarf. Es geht eher um das fundamentale und frag-lose Gefühl „alles ist irgendwie richtig“, bei dem man sich als lebendig, präsent, offen, verbunden und empfindungsstark in der Welt wahrnimmt.
Zur Fülle kann es auch gehören, sich selbst als Teil von etwas Größerem zu erleben, eingebettet in das Leben, jenseits von Konkurrenz, Vergleich und Wettbewerbsstreben. Fülle kann man nicht haben, sondern nur in ihr sein. Resonanz und Beziehungsqualitäten spielen dafür eine große Rolle, allererst ob ich überhaupt eine Beziehung – zu Menschen, Natur und Dingen – aufbauen kann.
Weil Fülle über mich selbst hinausweist, kann man sie auch nicht einfach herstellen oder planen. Die Unruhe des Herzens und der Wille, der eigenen Leere zu entkommen, garantieren keine Fülle. Damit sie gelingt, muss das Leben selbst uns entgegenkommen. Sie entsteht, wo wir das Gefühl haben, ergriffen zu werden – von der Natur, von der Schönheit, von Gott oder einer spirituellen Kraft außerhalb unserer selbst. Der Philosoph Charles Taylor erkennt in der Fülle deswegen das zentrale Element für jede religiöse, nicht notwendigerweise christliche Grundausrichtung der Existenz, die über den Individualismus moderner Gesellschaften mit ihrem „selbstgenügsamen Humanismus“ weit hinausweist. „Es geht um das Gefühl, hier gebe es einen Wert, der höher ist als das menschliche Gedeihen und der über dieses Gedeihen hinausgeht. … Unser Leben reicht weiter als dieses Leben.“ (Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 45).
Wie kann man Fülle erlangen? Bewusst und gewollt wahrscheinlich gar nicht. Manche mögen das Glück vielleicht durch Geschicklichkeit erringen oder manchmal sogar erzwingen, meinen jedenfalls Niccolo Machiavelli oder Udo Lindenberg. Mit der Fülle verhält es sich dagegen völlig anders. Wir können sie nicht selbst herstellen, und wenn wir sie fühlen, kann dieses Gefühl auch schlagartig wieder weg sein. Was Fülle genau ist, lässt sich überdies schwer in messbaren Kategorien erfassen. Glück können die Glücksforscher heute messen – es gibt sogar regelmäßig einen Glücksatlas -, Fülle dagegen nicht. Das macht den Begriff so sperrig und so unmodern: Warum sich mit etwas befassen, das man nicht in der Hand hat und dem man ausgeliefert ist?
Vielleicht genau darum. Es könnte ein fundamentaler Irrtum der modernen Glücksbestrebungen sein, dass sie auf Herstellbarkeit und die richtige Methode setzen. Glück als Lebenstechnik – „jeder ist seines Glückes Schmied“ -, die man ein Stück weit erlernen kann, hat sicherlich eine Berechtigung. Fülle ist aber etwas anderes. Sie kann man mit der richtigen Technik nicht erlangen oder erlernen. Fülle ist auch kein Produkt von Tüchtigkeit oder Leistung. Hier helfen verschiedene Terminologien der Religionen deutlich weiter. Dort findet man viele Bilder und Begriffe dafür, dass Fülle unverfügbar ist, dass wir sie nicht bewirken können und darauf angewiesen bleiben, dass sie uns zuteilwird und uns nicht wieder abhandenkommt.
Dieser Befund ist einerseits ernüchternd. Alles persönliche Abstrampeln stößt bei der Suche nach Fülle an Grenzen. Andererseits können diese Grenzen aber auch tröstlich sein. Dass wir nicht alles bewirken können, schon gar nicht die Fülle, unterscheidet uns von Göttern und von Superhelden. Was also können wir tun?
Nach Fülle kann man nicht eigentlich streben. Aber man kann auf sie hoffen, die Hoffnung auf die Fülle nicht aufgeben, nach den Spuren von Fülle im Leben suchen und sie im Herzen bewahren. Wer die Fülle will, muss ein guter Spurensucher sein. Der Dreiklang von hoffen, suchen und bewahren zeigt in die richtige Richtung.
von Christof Gramm | Jan. 11, 2025 | Allgemein
Haben wir privat, aber auch kollektiv-politisch noch große Erwartungen, oder richtet sich unser Sinnen und Trachten in erster Linie auf das Bewahren und vielleicht ein bisschen auf das Verbessern unseres Status quo? Brauchen wir überhaupt Visionen für die Zukunft, oder gilt der alte, Helmut Schmidt zugeschriebene Satz „wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen“? Zumal, wenn es den meisten doch ganz gut geht?
Fragt man etwa die Schriftstellerin Juli Zeh, den Journalist Ullrich Fichtner oder den Soziologen Andreas Reckwitz, leben wir in visionsarmen Zeiten. Manche mögen das gut finden, allerdings hat auch die Visionsarmut ihren Preis. Zukunft wird – zumal in einer älter werdenden Gesellschaft – von vielen nicht mehr als Ort der Verheißungen erlebt, sondern der Blick nach vorne ist häufig von Verlustängsten und von Mutlosigkeit beeinträchtigt. Das Prinzip Hoffnung gilt nicht mehr, die Grundstimmung ist antivisionär. Es fehlen große Erwartungen und eine „Zukunftserzählung“, wie die Welt eine bessere werden kann. Stattdessen erschöpfen sich visionäre Kräfte heute nur zu oft in rückwärtsgewandter Sehnsucht und Metaphorik, dass die Welt endlich wieder so werde, wie sie früher in Wahrheit nie war. Rechtspopulisten und der Ruf „make America great again“ zehren von solchen rückwärtsgewandten Visionen.
Visionsarmut wird ganz unterschiedlich erlebt. Politisch herrscht günstigstenfalls der Geist des Pragmatismus und der Nüchternheit. Gut, dass wir im 20. Jahrhundert, zum Beispiel von Karl Popper, gelernt haben, dass Hoffnungen nie zur Zwangsbeglückung anderer missbraucht werden dürfen. Das ist aber nur die eine Seite. Andererseits führt die seit langem diagnostizierte Erschöpfung utopischer Energien zum Zukunftsverlust, den Andreas Reckwitz beispielhaft so beschreibt: „Nicht die verschwundenen Industriejobs sind das Problem – sondern der fehlende Glaube, dass sie durch andere, bessere Jobs ersetzt werden.“ Folgerichtig reden wir vor allem über Verluste, nicht über Fortschritte. Ullrich Fichtner kehrt deswegen den Satz über Politik und Visionen um: „Wer keine Visionen hat, sollte sich von der Politik unbedingt fernhalten, und vielleicht besser Arzt werden. Oder Beamter.“
Ohne den Blick nach vorn und ohne Zuversicht gibt es keine Visionen, privat nicht und politisch nicht. Und vielleicht stoßen manche reaktionären Visionen von Extremisten und politischen Wirrköpfen, wie beispielsweise die der Reichsbürger, genau in die Lücke, die die aufgeklärte und liberale Sachlichkeit einer visionsarmen Gegenwartspolitik erst geschaffen hat. Niemand steht in den letzten Jahrzehnten in unserem Land wohl mehr für diese lange erfolgreiche, aber visionsarme Sachlichkeit als Angela Merkel, mit Ausnahme vielleicht ihres Satzes „wir schaffen das“. Der Satz zeigt das grundlegende Problem von Visionen: Sie können die Bevölkerung spalten (so selbst bei Willy Brandt mit seiner Ostpolitik, die keinesfalls von allen gutgeheißen wurde), und sie sind immer enttäuschungsanfällig und riskant. Das erfahren gerade auch die GRÜNEN mit ihrer Energiewende. Gut gemeint ist eben noch lange nicht gut gemacht. Sicherer ist es in jedem Fall gar keine Visionen zu haben. Das mag man tragisch nennen, aber die Wirklichkeit ist nun mal aus ziemlich hartem Stoff. An ihr vorbei müssen Visionen scheitern. Andererseits: Wenn Visionen nicht über die Wirklichkeit des Vorhandenen hinauszielen, wären sie keine Visionen. Realitätssinn und visionäre Kraft müssen zusammengehen, damit eine gute Zukunft daraus erwachsen kann. Der letzte große Visionär der deutschen Politik war wohl, ob man ihn nun mochte oder nicht, Helmut Kohl (Europa, Wiedervereinigung, blühende Landschaften). Heute ist die Lage wohl auch deswegen so visionsarm, weil wir von schier unlösbaren Problemen umzingelt sind. Kriege, Klimakrise, schwächelnde Wirtschaft, Erstarken antidemokratischer Kräfte überall usw. Politik erschöpft sich häufig im Abwehrmodus und in Mutlosigkeit, Aufbruchstimmung Fehlanzeige.
Wo kommen die politischen Visionen her, die uns antreiben? Ein kollektiver Leidensdruck gehört wohl immer dazu. Vielleicht sind visionsarme Zeiten deswegen sogar ein Indikator dafür, dass es eigentlich ganz gut läuft. Die Schweiz mag dafür als Beleg stehen – unaufgeregt und eher visionsschwach (ausgenommen beim Schutz der Natur), aber äußerst erfolgreich. Derzeit stehen in vielen europäischen Staaten rückwärtsgewandte Visionen hoch im Kurs. Manche sind alles andere als harmlos, zum Beispiel rassistische und antidemokratische Ansätze. Zukunftsvisionen, die auf eine wirklich neue humane und ökologische Qualität zielen, ohne die Wirklichkeit darüber auszublenden oder die Demokratie in Frage zu stellen, sind demgegenüber Mangelware.
Ich meine: Es braucht in freiheitlichen Gesellschaften gerade auch heute die große Erzählung, ein Bild von Zukunft, wie wir friedlich, sicher, frei und lebensfroh in einer gefestigten Demokratie zusammenleben können, auch mit der Natur. Und es braucht Bürger und Politiker beiderlei Geschlechts, die persönlich dafür einstehen und gegen alle Widerstände der Wirklichkeit, aber mit Realitätssinn und visionärer Kraft überzeugen. Wo das nicht der Fall ist, entstehen gefährliche Lücken, die die Gegner der freiheitlichen Demokratien bereitwillig ausfüllen.
von Christof Gramm | Jan. 6, 2025 | Allgemein
Meine unausgelebte Neigung zur Verzauberbergung – Zeit, sich zu outen. Ja, ich bin ein Zauberberger, jedenfalls von Zeit zu Zeit. Süße Weltflucht, durch Corona noch bestärkt. Lasst mich in Ruhe, wie schön klingt Chopin, und wie gut schmeckt der Wein dazu. Ein bisschen kraft- und irgendwie manchmal auch orientierungslos. Fallen lassen, einsam und alleine, aber frei und unbehelligt. Weich, aber nicht aufgeweicht. Verletzlich, aber nicht zerstört. Die Freuden des Rückzuges. Das ist nicht wenig.
Passend dazu: Novemberfreuden mit Novemberfreunden. Auf der Suche nach einem Hydeaway, auf der Landkarte unserer deutschen Gefühlsmatrix irgendwo zwischen Romantik und existenzieller Vereinzelung.
Trägt nur begrenzt, aber immerhin. Zahltag ist später, jetzt Hingabe an – ja an was? Ans ganz persönliche Nichtmüssen, Nichtkönnen und Nichtwollen. Eine gewisse Antriebslosigkeit, zum Glück noch deutlich vor dem Überdruss, insofern auch noch genussfähig.
Wie passend Karl Valentin. „Heute in mich gegangen. Auch nichts los.“ Macht aber nix, kann manchmal ganz schön sein. Zumal daneben die deprimierende, aber ziemlich wahre Einsicht eines Blaise Pascal steht: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Jetzt etwas gegen das Unglück der Menschheit tun und zu Hause bleiben.
Vielleicht etwas zu vergeistigt und zu viel verlangt, aber die Sehnsucht nach Ruhe und Abgeschiedenheit eines Zauberberges, die man manchmal auch mit Gleichgesinnten teilen mag, ist ein im lärmenden Rauschen unserer Zeit völlig unterbewerteter Zug unserer Existenz. Dafür muss man entweder ganz viel Zeit haben (wer hat das schon?) oder pensioniert sein und einigermaßen frei von ambitionierten Bestrebungen jeglicher Art. Man muss sich das Nichtstun, auch das keine neue Erkenntnis, auch leisten können.
Ersatzimpulse für weniger Zeitbeschenkte gibt es genug. Als Überholspur auf der Zeitschiene bieten sich an Achtsamkeitstraining, Joga, vielerlei Meditationstechniken, unzählige Wellnessangebote usw. Sie verheißen den Weg nach Innen zu einem – hoffentlich – ruhigeren Ichkern jenseits der bloßen Ich-Funktionalität. Ist zwar noch kein Zauberberg, eher eine Art Teilzeitabstand zu dem, was einen sonst so umfangen hält, aber immerhin.
Auch wenn Abstand das Stichwort ist, gibt es einen bedeutenden Unterschied des Modus Teilzeitabstand zum Modus der Verzauberbergung: Bei den Techniken der Teilzeitabstandsfindung geht der Gedanke der Zweckgerichtetheit und der Effizienz häufig doch irgendwie mit, beispielsweise in Form der Erwartung einer Wiederherstellung der eigenen mentalen Fitness oder als absichtsvolle Burnout-Prophylaxe, wogegen Verzauberbergung jedenfalls auch ein durchaus bewusstes und gewolltes Sichausliefern an den Zustand der Zwecklosigkeit und manchmal auch der Langeweile bedeutet, ohne zu wissen, was passiert und was das mit mir macht.
Absichtsvolle Langeweile, verstanden nicht als Zustand des Leidens an innerer Leere, die es so schnell wie möglich zu füllen gilt, sondern eher als notwendige Vorstufe zu einer praktisch gelebten Muße. In der Muße zeigen sich Fülle, Sinn, Schönheit, Freude und vieles mehr. Gar nicht so einfach, da hin zu kommen. Gute Langeweile will wohl gelernt sein. Sie kann den eigenen Blick öffnen und weiten. Also Abstand durch Langeweile gleich Muße?
Ganz so einfach geht die Formel doch nicht auf. Immerhin, in der bewussten Langeweile zeigt sich deutlicher als sonst, womit die eigenen inneren Räume befüllt sind. Klar ist: Ein reiches Innenleben macht Langeweile fruchtbar. Also kommt es entscheidend auf die eigene Innenbefüllung an: Was schleppe ich eigentlich alles mit mir herum? Was habe ich mir im Laufe der Zeit auf meine persönliche Festplatte geladen? Dafür muss man nicht unbedingt eine Psychoanalyse machen. Einfach mal sich selbst zuhören wäre schon was. Langeweile kann eine Art Geburtshelferin für eigenes Fühlen, Denken und Erkennen werden. Dafür braucht es noch nicht einmal einen echten Zauberberg, sondern viele Orte können Zauberberg sein.
Zauberberge sind allerdings keine Orte, an denen man sich dauerhaft aufhalten sollte. Der Weg zurück will stets gegangen werden. Das Erwachen danach und das Auftauchen aus dem inneren hydeaway, möglichst ohne Schrecken und ohne Verlust des eigenen Weltgefühls, wollen geübt sein. Rituale können beim Abstieg vom eigenen Zauberberg helfen. Etwas Handfestes sollte es sein. Zum Beispiel weg von sich selbst auf andere blicken oder, noch besser, etwas für andere tun. Es muss ja nicht immer nur um mich selbst gehen. Trotzdem, von Zeit zu Zeit suche ich ihn gerne auf, meinen ganz persönlichen Zauberberg.
von Christof Gramm | Dez. 14, 2024 | Allgemein
Müssen wir mehr miteinander streiten – und wenn ja worüber und wie? Streit ist eine ausgesprochen zwiespältige Angelegenheit. Er kann konstruktiv oder destruktiv sein. Es kommt darauf an, mit welchen Zielen und mit welchen Mitteln man sich streitet. Optimisten erkennen in ihm eine Methode, eine Art Findeverfahren, um zu guten Ergebnissen zu gelangen. Idealerweise steht am Ende ein tragfähiger Kompromiss. Sie setzen auf die positive Kraft des Streites und darauf, dass er nicht aus dem Ruder läuft. Pessimisten fürchten dagegen eher seine destruktive und vergiftende Wirkung und vermeiden deswegen lieber von vornherein jede Auseinandersetzung. Ihre Haltung ist „bloß kein Streit …“, gilt auch für sehr harmoniebedürftige und bequeme Menschen.
Daraus folgt: Streit kann, aber muss nicht negativ sein. Dass der Streit der Vater aller Dinge ist, behauptete bereits Heraklit (häufig auch übersetzt als „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“). So gesehen müsste es uns ja eigentlich gut gehen. Wenn man die Politik anschaut, fehlt es gerade nicht an Konflikten, an Streit und an Kriegen. Das gilt international, aber auch innerhalb vieler Länder, und das nicht nur in Europa. Der verbreitete politische Rechtsruck verschärft überall die Tonart. Einige Strategen versuchen heute ganz gezielt, den geistigen Krieg in die eigene Bevölkerung hinein zu tragen. Die Politstrategen von Donald Trump machen es vor. Gesellschaftliche Unversöhnlichkeit und ein strenges Freund-Feind-Schema bilden die Grundlage einer gewollten Spaltung der Bevölkerung, entschlossene Feindschaft wird zum Identitätsmerkmal. Das gilt in unserem Land auch für viele (Rechts-) Extremisten, mit weitreichenden Folgen, zumal in einer Demokratie. Feindschaft schließt Empathie für den Gegner aus und zielt in letzter Konsequenz auf dessen Vernichtung. Das zerstört die Demokratie. Und in den sozialen Medien herrscht oft ein Überbietungswettbewerb mit möglichst grellen Urteilen, mit Wut und Hasskaskaden. Das Gemäßigte bleibt dahinter unsichtbar.
Andererseits drohen schwerwiegende Verwerfungen, wenn Streitigkeiten aus Herrschaftsdenken, aus Harmoniesucht oder aus banaler Feigheit, unter den Teppich gekehrt und nicht „ausgestritten“ werden. Drängende streitbehaftete Themen kann man jedenfalls auf Dauer schwerlich wegignorieren. Und der stille Befehl „Du sollst nicht sehen“ macht nicht nur Kinder krank. Das Unausgestrittene entwickelt oft ein Eigenleben. Das kann Depressionen und Einsamkeit, Beziehungsstörungen aller Art, zerstörerische Lebenslügen und mitunter gefährlichen Stillstand befördern, persönlich und kollektiv. Bevor der Streit nun aber vorschnell als Allheilmittel zur Problemlösung gepriesen wird, sollte klar sein, dass es Spielregeln braucht. Streit bedarf der Einhegung, der Rationalisierung und der Streitkultur, sonst droht das Abrutschen in unversöhnlichen Hass oder kollektiv in den Bürgerkrieg der Weltanschauungen. Die Frage ist allerdings: Wer gibt dabei den Schiedsrichter?
Zurück zur Wirklichkeit. Haben wir eine gute Streitkultur in unserem Land? Daran kann man in einer permanent erregten und überhitzten Öffentlichkeit manchmal zweifeln. Wut und Hass verkaufen sich gut. Manche Talkshows sind gezielt auf Krawall gebürstet und werden personell entsprechend bestückt – Fachleute Mangelware, Hauptsache Quote. Sachlichkeit und praktizierte Abwägungskunst sind dagegen nicht sonderlich in Mode, wobei es auch gute Formate gibt, mE derzeit zum Beispiel „Die 100 – Was Deutschland bewegt“.
Anfangen muss man wahrscheinlich, wie meistens, bei sich selbst. Ein erster Schritt könnte die Frage sein: Worüber sollten wir im Sinne seelischer Hygiene streiten? Ist vielleicht etwas liegen geblieben zwischen uns, was wir übersehen haben oder nicht sehen wollen? Damit eben nichts unter den Teppich gekehrt wird. Das ist unbequem und mitunter auch trennend. Erwachsen handelt aus meiner Sicht, wer andere Sichtweise zwar nicht teilen, aber doch immerhin nachvollziehen und ein Stück weit verstehen kann. Andererseits sollte man nicht jeden Kleinkram überhöhen und zum Streitthema erheben. Man muss sich auch nicht in jeden Streit hineinziehen und von jedem Heißtreiber triggern lassen.
Dass wir in der Politik mehr sachlichen Streit und weniger emotionale Brandbeschleuniger brauchen, und – genauso übel – keine alles nur zukleisternde Beschwichtigungrhetorik, ist meine feste Überzeugung. Genauso wichtig finde ich einen eher altmodischen und sportlichen Aspekt: Man muss auch verlieren können, ohne sich auf alle Zeiten persönlich zuzugrollen. Demokratie bedeutet immer, dass einige zwangsläufig verlieren. Es kommt deswegen darauf an, Widerspruch und verlieren frühzeitig einzuüben, ohne daran zu verzweifeln, zum Beispiel bei Spiel, Sport und in der Schule. Gut verlieren kann man überall da, wo eine Grundwertschätzung nicht aufgekündigt wird. Wo die fehlt, wird es dagegen schnell fürchterlich – kollektiv und privat.
Auch wenn es eine Binse sein mag, so ist es dennoch wahr: Entschlossen und mutig streiten ja gerne, aber bitte immer mit gegenseitiger Wertschätzung.
von Christof Gramm | Nov. 2, 2024 | Allgemein
Wann fühlen wir uns einsam? Und wie gehen wir damit – und mit der Einsamkeit von anderen – um? Das kommt ganz darauf an, denn es gibt sehr verschiedene Arten von Einsamkeit. Das gängige Verständnis meint den isolierten Menschen ohne ausreichende Sozialkontakte, der sich nicht mehr gesehen und vom Leben abgeschnitten fühlt. Die Einsamkeit aufgrund eines Traumas ist dagegen etwas ganz anderes, ebenso wie die Tarnung und Verdrängung von Einsamkeit durch Überbetriebsamkeit, durch übermäßigen Unterhaltungs- und Alkoholkonsum oder durch andere Fluchtmechanismen. Daneben gibt es mindestens noch die existenzielle Einsamkeit, die sich eher auf einer philosophisch-theologischen Ebene der Verlassenheit abspielt. Von dieser Art Einsamkeit können wir die Erkenntnis mitnehmen, dass sie zu unserem Leben dazu gehört.
Hinzu kommt, dass Einsamkeit im Laufe des Lebens sehr unterschiedlich erlebt wird – etwa als Kleinkind, in der Pubertät, bei einem biographischen Bruch oder als alter Mensch. In allen Fällen gilt, dass Einsamkeit Ängste auslösen und krank machen kann. Manchmal meldet sie sich auch schlagartig mitten im Leben durch Gefühle tiefen Befremdens. Vertraute Menschen und Welten sind einem plötzlich fern, man fühlt sich isoliert und nicht mehr zugehörig. Dramatisch sind Gefühle des totalen Abgeschnittenseins und der tiefen Verlassenheit.
Formen der sozialen Einsamkeit werden heute manchmal als eine Art Betriebsunfall betrachtet. Verantwortlich gemacht werden beispielsweise Fehlentwicklungen in der individuellen Sozialisation oder gesamtgesellschaftliche Konstellationen. Als Extrembeispiel für die erste Gruppe mag das in Japan bekannte Phänomen von jungen Menschen stehen, die ihre Wohnungen überhaupt nicht mehr verlassen und nur noch digital mit der Außenwelt verbunden sind. Als Beispiel für einen gesamtgesellschaftlichen Betriebsunfall kann die erzwungene Isolation im Zeichen von Corona stehen. Die ist vielen, gerade auch jüngeren Menschen, nicht gut bekommen. Die durch Einsamkeit verursachten persönlichen und gesellschaftlichen Schäden einschließlich ihrer Kosten sind jedenfalls enorm. Das gilt für Junge und Alte gleichermaßen. Wer einsam ist, ist im Durchschnitt deutlich unglücklicher und kränker als sozial gut eingebettete Menschen. Längst ist das Thema auch in der Politik angekommen. Die Bekämpfung von Einsamkeit wird zunehmend als neue öffentliche Aufgabe begriffen, nicht nur auf kommunaler Ebene („gemeinsam statt einsam“), sondern auch in den Ländern und im Bund, Stichwort Einsamkeitsministerium in GB oder „Strategie gegen Einsamkeit“ und „Einsamkeitsbarometer“ der Bundesregierung. Ob das wirklich eine Staatsaufgabe ist, darüber kann man streiten. Immerhin sind auch viele Ehrenamtler bei der Bekämpfung von Einsamkeit beteiligt.
Jenseits der großen Lösungsansätze braucht es aus meiner Sicht jedenfalls auch persönliche Strategien, um mit Einsamkeit gut zurecht zu kommen. Wer Einsamkeit gar nicht erträgt, ist arm dran. Einsamkeitskompetenz, verstanden als die Kunst mit Einsamkeit auf gute Weise umzugehen, ist eine Schlüsselqualifikation, gerade weil unsere Zeit auf Tempo und Erlebnismaximierung eingestellt ist. Es gibt keineswegs nur die schlechte Einsamkeit, sondern Einsamkeit – oder vielleicht besser Alleinsein – kann auch positive und bereichernde Aspekte haben. Konzentration, innere Sammlung und Orientierung, das genaue Hinhören und Hinsehen, das Verstehen komplexer Lebenszusammenhänge, Selbsterkenntnis, auch Kreativität und Meditation brauchen einen gewissen Rückzug und eine Kultur der Einsamkeit und der Stille. Im digitalen Zeitalter ist diese Erfahrung allerdings ziemlich rar. Gute Einsamkeit benötigt Pflege und Einübung. Wie viel Einsamkeit uns gut tut, ist individuell natürlich ganz verschieden, aber so viel ist klar: Zu viel Einsamkeit tut niemandem gut.
Zur Einsamkeitskompetenz gehört deswegen die Fähigkeit, ihr auch wieder zu entkommen. Das Gegenteil von Einsamkeit ist Verbundenheit bzw. Zugehörigkeit. Wer sich für andere interessiert und auf andere zugehen kann, wer Zugehörigkeiten aufbauen und pflegen kann und wer vielfältige Interessen verfolgt, hat es leichter aus der eigenen Einsamkeit herauszufinden. Letztlich geht es um eine Art Pendelbewegung vom Ich zum Du zum Wir und zurück. Gemeinsame Aktivitäten tragen dabei manchmal weiter als endlose Gespräche. Um miteinander zu singen oder zu wandern muss man keineswegs in allen wichtigen Fragen des Lebens übereinstimmen oder sich darüber austauschen. Und weil Einsamkeit keine singuläre Erfahrung ist, kann man sie sogar teilen, jedenfalls darüber sprechen. Wer dagegen darauf wartet, dass andere sich für ihn interessieren, aber selber nicht bereit ist, dies auch umgekehrt zu tun und nur vor sich hin monologisiert, wird schwerlich aus seiner Einsamkeit herausfinden. Man kann es auch böse formulieren: Manche Einsamkeit ist selbstverschuldet. Letztlich bleibt unsere Existenz immer in die Dualität von Einsamkeit und Geselligkeit eingespannt. Dem entkommt keiner. Machen wir das Beste daraus, vom Ich zum Du zum Wir – und zurück.