Einsamkeit

Wann fühlen wir uns einsam? Und wie gehen wir damit – und mit der Einsamkeit von anderen – um? Das kommt ganz darauf an, denn es gibt sehr verschiedene Arten von Einsamkeit. Das gängige Verständnis meint den isolierten Menschen ohne ausreichende Sozialkontakte, der sich nicht mehr gesehen und vom Leben abgeschnitten fühlt. Die Einsamkeit aufgrund eines Traumas ist dagegen etwas ganz anderes, ebenso wie die Tarnung und Verdrängung von Einsamkeit durch Überbetriebsamkeit, durch übermäßigen Unterhaltungs- und Alkoholkonsum oder durch andere Fluchtmechanismen. Daneben gibt es mindestens noch die existenzielle Einsamkeit, die sich eher auf einer philosophisch-theologischen Ebene der Verlassenheit abspielt. Von dieser Art Einsamkeit können wir die Erkenntnis mitnehmen, dass sie zu unserem Leben dazu gehört. 

Hinzu kommt, dass Einsamkeit im Laufe des Lebens sehr unterschiedlich erlebt wird – etwa als Kleinkind, in der Pubertät, bei einem biographischen Bruch oder als alter Mensch. In allen Fällen gilt, dass Einsamkeit Ängste auslösen und krank machen kann. Manchmal meldet sie sich auch schlagartig mitten im Leben durch Gefühle tiefen Befremdens. Vertraute Menschen und Welten sind einem plötzlich fern, man fühlt sich isoliert und nicht mehr zugehörig. Dramatisch sind Gefühle des totalen Abgeschnittenseins und der tiefen Verlassenheit. 

Formen der sozialen Einsamkeit werden heute manchmal als eine Art Betriebsunfall betrachtet. Verantwortlich gemacht werden beispielsweise Fehlentwicklungen in der individuellen Sozialisation oder gesamtgesellschaftliche Konstellationen. Als Extrembeispiel für die erste Gruppe mag das in Japan bekannte Phänomen von jungen Menschen stehen, die ihre Wohnungen überhaupt nicht mehr verlassen und nur noch digital mit der Außenwelt verbunden sind. Als Beispiel für einen gesamtgesellschaftlichen Betriebsunfall kann die erzwungene Isolation im Zeichen von Corona stehen. Die ist vielen, gerade auch jüngeren Menschen, nicht gut bekommen. Die durch Einsamkeit verursachten persönlichen und gesellschaftlichen Schäden einschließlich ihrer Kosten sind jedenfalls enorm. Das gilt für Junge und Alte gleichermaßen. Wer einsam ist, ist im Durchschnitt deutlich unglücklicher und kränker als sozial gut eingebettete Menschen. Längst ist das Thema auch in der Politik angekommen. Die Bekämpfung von Einsamkeit wird zunehmend als neue öffentliche Aufgabe begriffen, nicht nur auf kommunaler Ebene („gemeinsam statt einsam“), sondern auch in den Ländern und im Bund, Stichwort Einsamkeitsministerium in GB oder „Strategie gegen Einsamkeit“ und „Einsamkeitsbarometer“ der Bundesregierung. Ob das wirklich eine Staatsaufgabe ist, darüber kann man streiten. Immerhin sind auch viele Ehrenamtler bei der Bekämpfung von Einsamkeit beteiligt. 

Jenseits der großen Lösungsansätze braucht es aus meiner Sicht jedenfalls auch persönliche Strategien, um mit Einsamkeit gut zurecht zu kommen. Wer Einsamkeit gar nicht erträgt, ist arm dran. Einsamkeitskompetenz, verstanden als die Kunst mit Einsamkeit auf gute Weise umzugehen, ist eine Schlüsselqualifikation, gerade weil unsere Zeit auf Tempo und Erlebnismaximierung eingestellt ist. Es gibt keineswegs nur die schlechte Einsamkeit, sondern Einsamkeit – oder vielleicht besser Alleinsein – kann auch positive und bereichernde Aspekte haben. Konzentration, innere Sammlung und Orientierung, das genaue Hinhören und Hinsehen, das Verstehen komplexer Lebenszusammenhänge, Selbsterkenntnis, auch Kreativität und Meditation brauchen einen gewissen Rückzug und eine Kultur der Einsamkeit und der Stille. Im digitalen Zeitalter ist diese Erfahrung allerdings ziemlich rar. Gute Einsamkeit benötigt Pflege und Einübung. Wie viel Einsamkeit uns gut tut, ist individuell natürlich ganz verschieden, aber so viel ist klar: Zu viel Einsamkeit tut niemandem gut.  

Zur Einsamkeitskompetenz gehört deswegen die Fähigkeit, ihr auch wieder zu entkommen. Das Gegenteil von Einsamkeit ist Verbundenheit bzw. Zugehörigkeit. Wer sich für andere interessiert und auf andere zugehen kann, wer Zugehörigkeiten aufbauen und pflegen kann und wer vielfältige Interessen verfolgt, hat es leichter aus der eigenen Einsamkeit herauszufinden. Letztlich geht es um eine Art Pendelbewegung vom Ich zum Du zum Wir und zurück. Gemeinsame Aktivitäten tragen dabei manchmal weiter als endlose Gespräche. Um miteinander zu singen oder zu wandern muss man keineswegs in allen wichtigen Fragen des Lebens übereinstimmen oder sich darüber austauschen. Und weil Einsamkeit keine singuläre Erfahrung ist, kann man sie sogar teilen, jedenfalls darüber sprechen. Wer dagegen darauf wartet, dass andere sich für ihn interessieren, aber selber nicht bereit ist, dies auch umgekehrt zu tun und nur vor sich hin monologisiert, wird schwerlich aus seiner Einsamkeit herausfinden. Man kann es auch böse formulieren: Manche Einsamkeit ist selbstverschuldet. Letztlich bleibt unsere Existenz immer in die Dualität von Einsamkeit und Geselligkeit eingespannt. Dem entkommt keiner. Machen wir das Beste daraus, vom Ich zum Du zum Wir – und zurück.

Vergänglichkeit

Im menschlichen Leben kommt die existenzielle Erfahrung der Vergänglichkeit unterschiedlich an. Manchmal enden die Dinge abrupt. Das gilt für jedes große Unglück, das unvermittelt ins Leben einbricht. Häufig erleben wir die Vergänglichkeit aber auch als schleichenden Prozess. Jugend, Gesundheit, Konzentrationskraft und Gedächtnis nehmen sinkflugartig ab, ein großes Glück verblasst, die ewige Liebe schmilzt, Erfolge verlieren ihre Bedeutung. Das alles soll, ja muss bewältigt werden. Man kann zwischen innerzeitlichen und transweltlichen Bewältigungsstrategien unterscheiden. Die wohl extremste Variante der innerzeitlichen Verfahren nenne ich die Strategie des „Homo deus“.

Was relativ harmlos mit Körperkult, Anti-Aging und Botox begann, hat längst eine andere Dimension erreicht. Medizin, Biologie und KI bieten neue Perspektiven für eine effektive Verlängerung des menschlichen Lebens. Manche träumen von der Unsterblichkeit und versuchen einen ganz neuen Menschen zu konstruieren, ein Hybridprodukt zwischen biologischem und technischem Wesen (Transhumanismus). Gentechnik und KI machen es möglich. Der Mensch wird dadurch immer mehr zum Schöpfer seiner 

Transweltliche Strategien zielen demgegenüber auf die Überwindung des Zeitlichen. Damit kommen die Religionen ins Spiel.     

Vertrauen und Hoffnung: „Meine Zeit steht in deinen Händen“ ist eine Haltung des Vertrauens. Das Christentum bietet auch die Hoffnung auf einen Seinszustand hinter der greifbaren Wirklichkeit und jenseits der Zeitlichkeit. Die Liebe Gottes zu den Menschen, die Auferstehung und das ewige Leben sind zentrale Bestandteile des christlichen Glaubens, der auf die radikale Überwindung dieser Welt und ihrer Endlichkeit zielt. Auch andere Religionen versprechen ein Leben jenseits von Welt und Zeit. 

Die Zeit überwinden und aus ihr aussteigen, durch Konzentration auf das Hier und Jetzt, etwa durch Meditation und Achtsamkeit, ist mit religiösen Strategien verwandt und steht manchmal in einer gewissen Nähe zum Buddhismus, der das Ende allen Leidens durch die Überwindung des Zeitlichen im Nirwana zum Ziel hat. Mit zunehmender Säkularisierung gewinnt diese Strategie an Attraktivität, auch weil sie keinen kirchlichen Rahmen benötigt.

Daneben gibt es viele Varianten und Vorstellungen eines Aufgehens im „Umgreifenden“, einer Verbundenheit mit dem Göttlichen über Zeit und Raum hinweg, manchmal auch mit den Ahnen oder eher naturreligiös in den „ewigen Jagdgründen“.  

Welcher Strategie folgen wir und wie gehen wir mit der Vergänglichkeit um: Mit kontrollierter Angst? Mit gelassener Akzeptanz? Verbittert, wütend und revoltierend? Fröhlich im Hier und Jetzt? Mit konsequentem Verdrängen? Mit Leistung und maximaler Effektivität im Leben? Vielleicht todessehnsüchtig? Neugierig auf das, was am Schluss noch kommen mag? Voller Vertrauen und Glauben gegen alle Realität? Oder doch vielleicht von allem ein bisschen? Letztlich muss jeder seine eigene Antwort auf die Vergänglichkeit finden.

Endlichkeit

Die Endlichkeit ist gesetzt – für jede und für jeden Einzelnen, für Staaten, für Gebäude aus Stahlbeton, für die Natur und für Arten, für alles Leben und schließlich für die Erde und den Kosmos. Die gesamte Schöpfung, so wie wir sie kennen, ist vergänglich. Die Zeit ebnet alles ein. Die brutalste Form der Endlichkeit ist der Tod. Das macht Angst. Die Menschen haben viele Strategien entwickelt, um die eigene Vergänglichkeit besser zu bewältigen. Hier einige Beispiele innerhalb von Welt und Zeit: 

Rausch: Manche Strategien zielen auf das Feiern des Augenblicks im Rausch und auf exzessiven Genuss. Was zählt ist das Jetzt. In der Antike gab es dafür sogar einen eigenen Gott: Dionysos, der gerne mit Weinkrügen und schönen Frauen dargestellt wird. Diese Strategie ist immer noch aktuell, auch wenn dabei keineswegs nur Wein zum Einsatz kommt. 

Tempo: Eine Variante davon ist eine entgrenzte Amüsier- und Erlebniskultur in unserer Zeit, bei der es um die permanente Steigerung der Erlebnisse und der Genüsse durch die Beschleunigung des Lebenstempos geht. Rastloses Reisen, alle möglichen Events, maximaler Spaß, mitnehmen was geht, und das in möglichst rascher Abfolge, denn wer schneller lebt, hat mehr vom Leben. Der Soziologe Hartmut Rosa erkennt darin die charakteristische Antwort unserer Zeit auf das Problem der Endlichkeit und des Todes. 

Gelassenheit: Dabei geht es um eher intellektuelle Strategien. Schon die Philosophenschule der Stoa empfiehlt maximale Gelassenheit gegenüber dem eigenen Tod. Was nicht zu ändern ist, muss man entspannt hinnehmen. Populär ist ein Satz, der auf Epikur zurückgeht: „Wenn der Tod nicht da ist, geht er mich nichts an, und wenn er da ist, bin ich nicht mehr.“ Heute finden manche auch Trost im Energieerhaltungssatz (nicht verloren), in der Reerdigung (als Erde zurück zur Natur) oder in der Vorstellung eines Weiterlebens in der Erinnerung von anderen.

Höchstleistung: Nutze die knappe Lebenszeit und gib alles. Nur die Leistung zählt. Diese Grundhaltung, die manchmal exzessive und suchtartige Züge annimmt, kann auf jedem Feld des Lebens wirksam werden, z.B. bei Arbeit, Sport, Musik und selbst bei aufopfernder Tätigkeit für andere. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit ist dabei der eigentliche Trigger.    

Macht und Reichtum: Sein wie Gott,durch die Anhäufung von Status, Macht und Reichtum, findet man bei ägyptischen Pharaonen, römischen Kaisern und heute zum Beispiel bei russischen Oligarchen und bei allen, die ausschließlich im Anhäufungs- und Haben- Modus leben. 

Größtmögliche Kontinuität und Stabilität: Eine eher unspektakuläre Strategie zielt darauf, dem Leben eine feste und berechenbare Form zu geben. Wiederholung, Ritualisierung und harte Arbeit, oft ergänzt durch Modernisierungsskepsis und Veränderungsscheu, bilden dabei den Rahmen der Existenz. Alles zu seiner Zeit, und das im rechten Maß. Das beruhigt und mildert die Angst vor der Vergänglichkeit, denn die Welt fühlt sich dadurch im Wesentlichen gleich an. 

Vergangenheit aufbewahren: Die Strategie der Konservierung für die Nachwelt zielt auf das bewusste Bewahren und Erhalten des Alten. Die Vergangenheit soll verfügbar bleiben, die Vergänglichkeit dadurch abgemildert werden. Was bewahrt wird, ist nicht ganz verloren. Konservierung, Archivierung, Musealisierung, heute auch in Form des Arten-, Natur- und Denkmalschutzes, zielen darauf, große Werke der Menschheit und der Natur zu erhalten und aufzubewahren. Auch privat kann man das eigene Leben zu einem Museum machen. Alles wird dann dokumentiert und archiviert. 

Idealismus: Manche kompensieren die eigene Endlichkeit, indem sie sich bedingungslos in den Dienst einer Idee stellen. Sie sehen sich als Protagonisten eines höheren Sinnes und wollen die Welt aktiv verändern, notfalls auch mit Gewalt. Kommunistische Ideologien und weltverändernde Heilslehren aller Art zielen in diese Richtung. Wer einem Ideal dient, vergrößert sein Ich und fühlt sich nicht mehr ganz so klein und vergänglich.

Loyalität

Über Vertrauen wird viel geredet und geschrieben, weniger dagegen über Loyalität. Dabei hängt beides eng zusammen. Loyalität meint die umgekehrte Richtung von Vertrauen, also nicht: Wem vertraue ich, sondern wem bin ich verbunden, und wer kann und darf mir zu Recht vertrauen? Loyalität bezeichnet damit zwar weniger als Liebe, aber deutlich mehr als ein unverbindliches Miteinander. Der Begriff steht für eine bestimmte Qualität der Verbundenheit. Dazu gehören Anständigkeit, Geradlinigkeit, Ehrlichkeit, Respekt vor Spielregeln, Treue, Fairness, Zuverlässigkeit, manchmal Verschwiegenheit und das Einstehen füreinander. Umgangssprachlich kommt das ungefähr so zum Ausdruck: „Dem (oder der) kann man trauen. Der ist loyal.“ Wer Vertrauen schenkt, erwartet im Gegenzug häufig Loyalität. Und umgekehrt. Es ist wie bei einem Tauschgeschäft

Sozialverbände sind auf Loyalität angewiesen. Partnerschaften, Familien, Freundeskreise, Vereine, Religionsgemeinschaften und andere Gruppen müssen – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad – füreinander einstehen. Das gilt selbst noch für Bandidos und für die Mafia, die einen besonders strengen Verhaltens- und Ehrenkodex pflegen. Dabei geht es nicht nur um Loyalität gegenüber Personen, sondern auch gegenüber gemeinsamen Zielen und Werten. In Krisensituationen zeigt sich, wie belastbar solche Loyalitäten sind. Dann kommt es darauf an, ob man sich wechselseitig aufeinander verlassen kann. Das bedeutet auch, dass Loyalität keine hierarchische Einbahnstraße ist. Sie gilt nach allen Seiten und Richtungen, von unten nach oben, aber auch von oben nach unten. Loyale Mitarbeiter brauchen loyale Chefs – und umgekehrt. Loyalität ist im Grundsatz positiver Sozialkitt. Wer – ausdrückliche oder stillschweigende – Loyalitätserwartungen einer Gruppe enttäuscht, muss mit Sanktionen rechnen. Das ist vollkommen in Ordnung, denn nur so kann eine Gruppe sich stabilisieren und ihre Identität bewahren. Dies gilt in kleinen ebenso wie in großen Sozialverbänden. Einen Sonderfall stellt der moderne Staat dar. Staatsdiener, insbesondere Beamte und Soldaten, sind zur Loyalität bzw. zur Verfassungstreue gesetzlich verpflichtet. Für alle anderen gibt es lediglich die allgemeine Rechtspflicht zur Gesetzestreue, aber keine spezifische Pflicht zur Staats- und Verfassungsloyalität. In Berlin wird das gerade anlässlich der Vergabe von öffentlichen Fördergeldern wieder diskutiert. Die Wahrheit ist: Die Wehrpflicht ist ausgesetzt. Keiner muss sich für Politik interessieren. Eine Wahlpflicht kennt unser Rechtssystem nicht. Es gibt auch keine Pflicht, ein netter und rücksichtsvoller Mensch zu sein, sich ehrenamtlich zu engagieren oder unsere Verfassung und ihre Werte zu achten. Wer nicht einer besonderen rechtlichen Loyalitätspflicht unterliegt, hat sogar das Recht, sich aktiv gegen diesen Staat und gegen diese Verfassung zu stellen, solange er sich dabei an die Gesetze hält. 

Andererseits liegt es auf der Hand, dass ein demokratischer Staat ohne ein gewisses Maß an Loyalität seiner Bürgerinnen und Bürger nicht bestehen kann, auch wenn man sie nicht erzwingen kann. Sie beruht auf einem freiwilligen Akt, zum Beispiel der Bereitschaft, an politischen Wahlen teilzunehmen. Wenn Loyalitätserwartungen des Staates nicht erfüllt werden, bleibt das in unserem Land sanktionslos. Man kann von einem staatlichen Loyalitätsdilemma sprechen: Um der Freiheit willen hat jeder das Recht, seine Loyalität gegenüber dem Staat zu verweigern, obwohl die staatliche Gemeinschaft darauf angewiesen ist, dass viele gegenüber dem Staat loyal sind. Ob beispielsweise eine Wahlpflicht sinnvoll wäre, kann man zwar diskutieren. In anderen europäischen Ländern gibt es das, zum Beispiel in Italien. Eine andere Frage ist es allerdings, ob das viel bringt, zumal die staatlichen Sanktionen meistens nicht ins Gewicht fallen (in der Regel kleine Geldbuße). 

Das grundsätzliche Loyalitätsdilemma im staatlichen Raum kann sich verschärfen, wenn kulturelle, weltanschauliche und andere gesellschaftliche Unterschiede in der Bevölkerung zu stark auseinanderdriften. Hier liegt meines Erachtens die offene Flanke der gesellschaftlichen Diversitätskonzeption, die selbst Ausdruck der Freiheitlichkeit unseres Gemeinwesens ist. Diversität muss zwar nicht notwendigerweise, aber sie kann spalten. Viele aktuelle politische Konflikte haben ihre Wurzel im Spaltungspotenzial gesellschaftlicher Differenz, nicht zuletzt bei der Migration. So gab es noch nie Proteste, wenn beispielsweise Briten nach dem Brexit sich in Deutschland einbürgern lassen wollen. Da, wo die Unterschiede als zu groß empfunden werden, sieht das allerdings ganz anders aus. Das Loyalitätsdilemma verschärft sich dann. Zu starke kulturelle und weltanschauliche Differenzen fördern nicht unbedingt die Loyalität gegenüber dem Staat und der Gesellschaft, insbesondere dann nicht, wenn diese Hintergründe freiheitsfeindlich, frauenfeindlich, antisemitisch oder demokratiefeindlich sind. Hierauf eine praktikable und wirklichkeitsgerechte Antwort zu finden, ist im Zeichen wachsender Migrantenströme eine politische Aufgabe von herausragender Bedeutung. Wie dieser Balanceakt ausgehen wird, ist noch ziemlich offen. Klar ist nur: Mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger wird man ihn ebenso wenig bewältigen wie mit Phantasien von völkisch-kultureller Homogenität.

Lernen

Wir lernen lebenslang. Aber die Lernkurve und die Art des Lernens sind in unserer Biographie sehr unterschiedlich. Am Beginn des Lebens müssen wir alle enorm viel lernen. Später flacht sich die Kurve ab. Der Lerndruck lässt tendenziell nach. Umso mehr stellt sich die Frage: Was muss, was möchte und was kann ich noch lernen? 

Vor allem gegen Ende des Berufslebens, und erst recht danach, gehen unsere Lernpflichten zurück. Lernen wird in dieser Phase immer mehr zu einer selbstbestimmten Angelegenheit. Das rein fachliche Lernen tritt zunehmend in den Hintergrund. Viele genießen diese Freiheit und erweitern ihren Horizont. Manche reduzieren ihre Lernprozesse aber auch auf das lebensnotwendige Minimum. Lernverweigerer gibt es selbst bei älteren Menschen, sei es aus Lernunlust, aus Resignation oder manchmal auch aus Borniertheit. Einige meinen sie hätten ausgelernt. Erstarrung des eigenen Weltbildes, Lebensenge und kommunikative Schäden sind dann vorprogrammiert. 

Kann man jenseits des Fachlichen auch das „gute Leben“ lernen? Ich würde mit einem vorsichtigen Ja antworten. Jedenfalls gilt: „Ich lerne, also bin ich.“ Lernen bringt uns näher an die Welt heran und weitet unser Ich. Im Unterschied zu einer passiven Konsumhaltung braucht es dafür Offenheit und den Willen zur aktiven Weltaneignung. Neugierde und Weltenhunger, aber auch eine Portion Ausdauer gehören dazu. 

Allerding ist Motivation nicht alles. Lernwilligkeit und Lernfähigkeit sind zweierlei. Gerade ältere Menschen fühlen sich durch technische Entwicklungen oft überfordert. Bei PC, Internet und Handy stößt der gute Wille schnell an Grenzen. Das wirft die Frage nach den möglichen Sinnrichtungen von Lernen auf. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit hier – jenseits aller spezifischen Fachlichkeit – einige Grundrichtungen, die sich teilweise auch überschneiden:  

  • Häufig geht es um den Erwerb von praktischen Fähigkeiten. Das gilt nicht nur für technische Fertigkeiten oder für Freizeithandwerker, sondern etwa auch bei sportlichen Aktivitäten. Wer selbst segeln möchte, muss allererst mal segeln können. Auch wer in der Küche, an der Börse oder im Garten mitmischen will, muss Grundkenntnisse besitzen. Es gibt kaum ein Lebensfeld, auf dem man keine praktischen Kompetenzen braucht, um mitspielen zu können.
  • Manchmal liegt der Schwerpunkt weniger auf dem praktischen Tun als auf einem gesteigerten Weltverstehen. Alles, was traditionell mit dem Begriff Bildung belegt ist, fügt sich in diese Sinnrichtung. Eine Fremdsprache lernen, Kunst, Musik und Literatur, Geschichte, Philosophie und Politik, Gesellschaft und Moral, naturwissenschaftliche Entwicklungen und technischer Fortschritt gehören dazu. Auch Reisen in fremde Welten, sofern sie sich nicht in bloßem Konsum erschöpfen, können Teil eines Lernprojektes zur Erweiterung des eigenen Weltverständnisses sein.
  • Lernen kann aber auch eher existenziell nach innen gerichtet sein und auf Selbsterkenntnis und Selbstverortung zielen. Dabei geht es nicht nur um Psychologie und um soziales Lernen. Beispielhaft für diese Haltung steht Michel de Montaigne, der mit seinen Essays die moderne Form der Selbstreflexion begründet hat. Wer bin ich, was mache ich eigentlich hier, was sind meine Aufgaben? Dabei geht es um Orientierung in der Welt. Zu dieser Sinnrichtung zählt auch das religiöse Lernen, bei dem es um das Verständnis und die Vertiefung der göttlichen Dimension in unserem Leben geht, beispielsweise im Gebet oder mittels Meditation.

Lernintensität und Anforderungsniveau sind ebenfalls ein zentrales Thema. Es ist nicht immer einfach, sich auf neue Welten einzulassen. Gerade wenn man in einem Fach richtig gut ist, fällt es manchmal schwer, sich vom Profi auf die Stufe des Anfängers zu begeben. Wer erst mit 60 Klavierspielen lernt, wird schwerlich ein großer Pianist. Aber muss man das überhaupt? In einer Leistungsgesellschaft können maximale Anstrengung und Überbietungswettbewerb leicht zum Selbstzweck werden. Umso mehr stellt sich die Frage: Geht es beim Lernen um Perfektion oder doch eher um die eigenen Weltzugänge und um Selbstwirksamkeit? Ich meine, es macht frei, nicht unbedingt ein Profi sein zu müssen. Perfektionismus kann eine Falle sein. Die Figur des fröhlichen Dilettanten wird vollkommen unterschätzt. 

Was möchten wir in der uns verbleibenden Restlaufzeit noch lernen?  Spontan oder geplant: Jedes Lernen, ob eher praktisch, eher kulturell oder eher existenziell ausgerichtet, setzt eine Haltung des Hinhörens, des Hinsehens und des Verstehenwollens voraus. Man muss sich auf die Dinge einlassen, um sich neue Welten zu erschließen. Wohin geht unsere ganz persönliche Reise? So oder so, es gibt noch viel zu lernen. Bis zum Schluss. Gott sei Dank.

Luxus

Wieviel Luxus verlange ich vom Leben, was steht mir zu und was nehme ich mir? Dafür gibt es keine Einheitsformel. Immerhin kann man sagen, dass Wohlstand, Luxus, und Genuss in enger Beziehung zueinanderstehen. Luxus zielt stets auf mehr als nur auf das, was wir zum Leben benötigen. Regional, kulturell und gesellschaftlich wird die Latte, wo der Luxus anfängt, wohlstandsabhängig natürlich sehr unterschiedlich hoch gehängt. Gutsituierte Westeuropäer haben eine völlig andere Vorstellung davon als Menschen in armen, unsicheren und klimatisch menschenfeindlichen Regionen der Welt. Auch individuell existieren sehr unterschiedliche Vorstellungen. Häufig wird Luxus mit einem hedonistischen Lebensstil in Verbindung gebracht. Luxus zielt dann vor allem auf materielle Größen und auf Überfluss, so wie im Bild vom Schlaraffenland, auf Pracht oder auf das ganz Besondere, zum Beispiel kostbare Autos, erlesene Weine, teure Designerkleidung oder Bilder von berühmten Künstlern. Für andere wird Luxus eher durch immaterielle Güter definiert, etwa durch Zeit und Muße oder durch die Freiheit, ein selbstbestimmtes und sorgloses Leben in Gesundheit und Beständigkeit zu führen. Nicht nur die materiellen, sondern auch viele immaterielle Luxusgüter sind allerdings meistens nur auf der Grundlage von Wohlstand zu haben. Jeglicher Luxus hebt uns über Mangel, Notwendigkeit und Alltäglichkeit hinweg. Es geht um das, was man zum Leben nicht unbedingt braucht, was das Leben aber besser, genussvoller und schöner macht. Luxus veredelt den Alltag. Er kann aber auch zur Droge werden und süchtig machen. 

Beim Thema Luxus schwingen häufig noch andere Aspekte mit, zum Beispiel soziale Abgrenzung und Wettbewerb. „Ich kann es mir erlauben, du nicht.“ Wir erinnern uns an die Sparkassenwerbung „Mein Haus, mein Boot, mein Auto“. Wer macht die tollsten Reisen, aber auch wer hat die meiste freie Zeit? Luxus bietet die Möglichkeit, sich demonstrativ abzuheben und dadurch soziale Anerkennung zu verschaffen. Was sich alle leisten können und was alle haben, ist kein Luxus mehr und schon gar nicht exklusiv. Wenn jeder nach Mallorca reist, ist das lediglich Standard. Der Gewöhnungseffekt greift auch hier: gestern Luxus, heute schon Normalität, und zwar gleichermaßen bei materiellen und immateriellen Gütern. Für die Fortschreibung des Wohlgefühls von Luxus braucht es mehr. Die Steigerungsspirale ist nach oben hin offen, was die Frage aufwirft, wieviel Luxus tut mir – und anderen – gut?

Manche üben Verzicht und bescheiden sich ganz bewusst, auch wenn sie sich Luxus durchaus leisten könnten. Ein asketischer Lebensstil lehnt insbesondere materielle Luxusgüter als überflüssig und häufig auch als moralisch verwerflich ab. Luxus bedeutet für Asketen, vorausgesetzt sie wollen damit nicht lediglich ihren Geiz übertünchen, die Ablenkung vom Wesentlichen. Bei anderen Luxuskritikern spielt die Frage nach der gerechten bzw. ungerechten Vermögensverteilung eine große Rolle. Sie verurteilen es, dass einige sich viel leisten können, andere dagegen gar nichts. Auch in der christlichen Tradition gibt es eine ganze Reihe von luxusfeindlichen Traditionslinien, zum Beispiel bei Franziskanern oder bei Calvinisten: Luxus ist unmoralisch und sündhaft, weil er andere ausschließt oder weil er das vorhandene Vermögen einfach nur verschleudert oder weil er (umwelt-) schädlich ist. 

Das andere Extrem bilden entschlossene Luxusjäger. In einem luxuriösen Leben bildet sich ihre Persönlichkeit ab. Erst recht in einer Weltanschauung, die die Gier als Tugend begreift, so wie dies bei einigen Wirtschaftsideologien der Fall ist, geht es um die Steigerung der Luxussymbole und der Genüsse. Das Streben nach Luxus gilt hier in keiner Weise als moralisch fragwürdig, sondern, ganz im Gegenteil, als Tugend und als persönlich sinnerfüllend. Die Wirtschaft unterstützt das. Sie profitiert davon, wenn sich nicht jeder nur mit dem Standardmodell zufriedengibt. Außerdem spiegeln sich in einem sichtbar zur Schau getragenen Luxus für viele Erfolg, Einfluss und soziale Geltung. Im konkreten Fall kann das zu ziemlich seltsamen Erscheinungen führen, zum Beispiel wenn man sich vergoldete Steaks servieren lässt. Neu ist das trotz mancherlei Empörung nicht. Man muss dafür gar nicht in die Antike zurückgehen. Auch in der Groß- und Urgroßelterngeneration war das mit Blattgoldstückchen versetzte Danziger Goldwasser Luxus pur. 

Diese beiden Extreme zeigen, dass die Einstellung zum Luxus viel mit der eigenen Lebenshaltung und der Frage zu tun hat, wie man sich selbst definiert. Manche verurteilen ihn, andere schätzen ihn zwar, begegnen ihm aber eher misstrauisch, wollen sich vielleicht auch nicht abhängig davon machen. Sie gönnen sich von Zeit zu Zeit gerne etwas, halten aber einen Sicherheitsabstand ein. Für wieder andere ist ein luxuriöses Leben absolut wichtig und sinnstiftend. 

So oder so, auch hier gilt: Luxus ist Charaktersache. Wie halten wir es damit?