Gelingen

Unsere „innere Brille“ prägt unsere Sichtweise auf die Welt. Zu oft richtet sich der Blick dabei auf Negatives. Das färbt wiederum nach innen ab und fühlt sich dann so an: Das Wirkliche, beziehungsweise das, was wir für wirklich halten, ist das Negative. Die Themen und die Art und Weise, wie öffentliche Medien über unsere aktuelle Wirklichkeit berichten, lädt zu dieser verzerrten Perspektive regelrecht ein. Klimawandel, Kriege, Krankheiten und Katastrophen aller Art bilden dabei nur die Spitze des Eisberges. Bilder des Leidens, aber auch die Wahrnehmung, dass im öffentlichen Leben nicht mehr viel gelingt und die Probleme nicht gelöst, sondern nur verschoben oder allenfalls zögerlich angegangen werden, haben sich in den Köpfen festgesetzt. Das gilt auch im Privaten. Dort spüren wir steigende Preise und Zinsen, zu heiße Sommer, Versorgungsengpässe – zum Beispiel bei Medikamenten, Arbeitskräftemangel, nicht funktionierende Verkehrssysteme, Wohnungsnot, fehlendes Modernisierungstempo usw. Tatsächlich gibt es zahlreiche Gelingensstörungen, im Kleinen wie im Großen. Davon erzählen wir alle gerne. Dabei ist die Fokussierung auf das Misslingen zutiefst ungesund. Auf Dauer erschöpft sie das Selbst, macht unfroh und resignativ, in anderen Fällen auch aggressiv, sie beschädigt soziale Gemeinschaften und den Gemeinsinn. 

Einige haben die zerstörerische Wirkung des negativen Blicks inzwischen erkannt und betreiben deswegen informationellen Konsumverzicht durch „Nachrichtenfasten“. Was manche als Rückzug ins Private kritisieren, hat bei Lichte betrachtet durchaus einen rationalen Kern. Warum soll ich mich mit Dingen belasten, auf die ich doch keinerlei Einfluss habe und die mir nur den Tag versauen? Umso drängender stellt sich die Frage: Wo bleibt das Gelingen? Der Blick darauf ist uns leider ziemlich verstellt. Die negative innere Brille macht, dass wir das Gelingen oft gar nicht mehr wahrnehmen. Und wo die Dinge nicht wahrgenommen werden, wird erst recht nicht darüber gesprochen. Hinzu kommt, dass es viel einfacher ist über Negatives zu sprechen als über Positives. Das Negative hat seine eigene Evidenz. Es erscheint häufig weniger begründungsbedürftig als das Positive und wird oft auch noch aufgeklärt-kritisch verpackt. Außerdem bleibt das Negative viel stärker im Gedächtnis haften. Daneben gibt es auch noch eine Art psychischen Sekundärgewinn. Es kann enorm verbindend sein, wenn man sich gemeinsam über alle möglichen Missstände aufregt. Negativität schafft, jedenfalls vordergründig, soziale Einigkeit, nicht nur unter Wutbürgern. 

Dabei liegt es auf der Hand, dass wir viel mehr vom Gelingen sprechen und uns gegenseitig davon erzählen sollten. Das hat nichts mit Naivität zu tun, sondern eher mit psychischer Gesundheit. Dafür müsste man sich allerdings erst einmal von der eigenen negativen Brille befreien. Und außerdem: Wie kann man vom Gelingen erzählen, ohne deswegen einfältig oder konkurrenzbewusst-auftrumpfend zu erscheinen? Und selbst ohne nerviges Triumphgehabe muss der Betroffene in unserer Gesellschaft den Neid der weniger Glücklichen fürchten. Zeigt: Es kann durchaus sozial riskant sein, aus dem gängigen Erzählmodus der Negativität auszubrechen.

Und dennoch, die Ödnis der negativen Brille muss überwunden werden, im Interesse jeder und jedes Einzelnen, aber auch der Gesellschaft als Ganzes. Wie kann das gelingen? Ein möglicher Ansatzpunkt ist die Ja-Aber-Methode. Ja, es stimmt, vieles ist wirklich nicht so, wie es sein sollte. Aber vieles ist auch bei Weitem nicht so schrecklich und so hoffnungslos, wie es häufig, mit entsprechendem „Framing“ durch Wort, Bild und Ton unterlegt, medial verkauft wird. Die Fakten sprechen mitunter eine ganz andere Sprache. Maß nehmen sollten wir an Pionieren des klaren Denkens, beispielsweise an Steven Pinker oder Hans Rosling („Factfulness“). Die Verbesserung von Luft- und Wasserqualitäten, die Bekämpfung von Ozonloch und saurem Regen, die schnelle Entwicklung von Corona-Impfstoffen sind Erfolgsgeschichten.  Die gibt es ganz oft auch in kleineren Maßstäben, zum Beispiel bei der Entwicklung neuer effizienter Heizsysteme auch für Altbauten. Davon sollten wir jedenfalls auch erzählen, und nicht zuletzt die ganz persönlichen Geschichten des Gelingens. 

Es geht nicht darum, Misslingen und Leid einfach zu ignorieren und auszublenden. Wohl aber geht es um Gegengewichte zum herrschenden Erzählmodus des Misslingens, um den einseitig-negativen Blick positiv zu ergänzen und zu korrigieren. Nur so haben wir auch die Chance auf ein angemessenes Bild von Wirklichkeit, was in einer Demokratie absolut „systemrelevant“ ist. Im eigenen Bekanntenkreis kann man danach fragen, was gut läuft.  Und wenn Sie mal wieder an eine Person der erregten Negativität geraten, versuchen Sie es mal mit der Ja–Aber-Methode. Erwarten Sie nicht unbedingt Zustimmung oder gar ein Umdenken bei Ihrem Gegenüber, aber tun Sie es mindestens für sich selbst, als Akt seelischer Hygiene und Gesundheit. Lasst uns mehr vom Gelingen erzählen – und darauf vertrauen, dass es genug Menschen gibt, die ebenfalls Geschichten vom Gelingen erzählen können.

Der Geist des Essays

Auch wenn die Grenzen mitunter fließend sind, gibt es in unserer nationalen Presselandschaft Kommentare zu Hauf, wohingegen die literarische Gattung des Essays in Deutschland nicht besonders hoch im Kurs steht. Das ist kein Zufall, sondern hat Gründe, wenn auch keine guten. 

In einem Essay stellt der Autor Betrachtungen an und schildert dabei seine persönliche Sicht der Dinge. Es geht nicht so sehr um das Was der Erörterung – prinzipiell kann jedes Thema Gegenstand eines Essays sein –, sondern um das Wie. Die Perspektive ist bewusst und gewollt eine subjektive. Hier spricht ein Einzelner aus dem Geist der Freiheit, nicht der Platzhalter einer bestimmten Organisation, einer Ideologie oder einer sonstigen Weltanschauung. Im Vordergrund steht die eigene Sichtweise.

Vielen ist das zu wenig. Sie erwarten eine abgerundete und institutionell, ideologisch oder religiös eingebettete Positionierung, die eine Zuordnung und Kategorisierung des Gesagten erlaubt. Hinzu kommt, dass der oder die Einzelne vielen als zu uninteressant gilt. Im Lande der Dichter und Denker muss es schon etwas Grundsätzlicheres, etwas Repräsentatives, Allgemeingültiges und über den Dingen Stehendes sein, um es überhaupt zu verdienen, zur Sprache gebracht zu werden. 

Wer es gerne „grundsätzlich“ mag, erwartet eine erhellende, irgendwie objektive Weltenerklärung, die mehr darstellt als eine bloß persönliche Sicht der Dinge. Es ist kein Zufall, wenn unsere Kommentarlandschaft in nahezu allen öffentlichen Medien von einer Kultur der Weltendeuter, Oberversteher und Sinngeber geprägt ist. Der Grundbass lautet oft genug weniger „ich aber meine“ als vielmehr im Verkündungs- und Urteilsmodus: „ich aber sage Euch“. 

Dabei macht es bei bewertenden Betrachtungen einen substantiellen Unterschied, ob jemand sagt „ich meine“ oder aber „das ist so“. In der ersten Haltung ist die Relativierung der eigenen Position eingepreist: Ich meine, aber mir ist klar, dass andere das keineswegs genau so sehen müssen. Dennoch lohnt es sich, darüber zu reden. Denn wo freie Menschen aufeinandertreffen, gibt es keine Alternative zum miteinander reden, wenn es nicht in wechselseitiges Belehren ausarten soll: Das ist so und nicht anders. 

Die letztgenannte Haltung sieht sich hingegen oft genug als Protagonist einer höheren Idee und fühlt sich darin erhaben. Respekt vor anderen Sichtweisen ist dabei nicht mitgedacht, sondern es herrscht der Geist des Obsiegens und der Durchsetzung der eigenen Position. Schlimm genug ist insbesondere in vielen sozialen Netzwerken der Ton rotzig, missachtend, manchmal bösartig und hasserfüllt.  

Misstrauen gegenüber dem Essay als einer dezidierten Ausdrucksform des Subjektiven erweist sich damit im Kern als Geringschätzung des Einzelnen. Das ist auch deswegen bedauerlich, weil die Form des Essays keineswegs gleichbedeutend mit Beliebigkeit ist. Die Form der subjektiven Haltung bedingt vielmehr gerade die Zurücknahme des eigenen Ichs, daher auch einen Grundrespekt vor anderen Sichtweisen: Ich meine zwar, dass die Dinge so und so sind, ich weiß aber um den Standpunkt meiner eigenen Subjektivität und räume deswegen ein, dass ich mir dessen, was ich sage, im letzten nicht ganz sicher sein kann und dass eine andere, konträre Sichtweise nicht nur möglich, sondern möglicherweise sogar richtiger ist, weil ich etwas übersehen haben könnte. Der Essayist will die eigene Sicht der Dinge zwar entschlossen und selbstbewusst zur Geltung bringen, aber immer auch ein Gespräch anregen. Er besteht nicht auf letzten Wahrheiten, wohl aber auf der Notwendigkeit des Gesprächs.

Das alles ist natürlich nicht neu. Entdeckt und zur Meisterschaft gebracht hat diese Kunstform Michel de Montaigne (1533 – 1592). Er wollte nicht belehren, sondern die Dinge aus seinem Turm heraus betrachten und dies mit anderen teilen. Seine Essays haben eher den Charakter einer Suchbewegung. Darin liegt seine brisante Modernität. Stets spricht er dabei nicht als Kirchenmann, als Vertreter des Staates, als Anhänger einer bestimmten Ideologie oder einer Gruppe, sondern immer als Michel de Montaigne. Er braucht für seine Essays keine ichverstärkenden Autoritäten, um seine Stimme zur Geltung zu bringen. Es genügt völlig die Botschaft: Hier spricht ein freier Mann oder eine freie Frau.  

Zumal in einer Zeit, in der feste Ordnungen, Institutionen und Traditionen brüchig geworden sind, in der die Vielfalt der unterschiedlichsten Lebensstile in nahezu allen Lebensbereichen geradezu explodiert und in der die Orientierung für den Einzelnen deswegen nicht gerade einfacher geworden ist, ist das Essay absolut zeitgemäß – aus Respekt vor dem Einzelnen, als Anregung für eigenes Denken und für das Gespräch miteinander, denn „wir mögen auf noch so hohe Stelzen steigen – auch auf ihnen müssen wir mit unseren eigenen Beinen gehen; und selbst auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir nur auf unserm Arsch.“ (Michel de Montaigne). Treffender kann man den Geist des Essays wohl nicht fassen. Beim Essay zählt jede Stimme, weshalb diese Form zugleich urdemokratisch ist. Auch mit Blick auf eine umfassende Krise vieler herkömmlicher Institutionen ist die Rückbesinnung auf die Freiheit des Einzelnen dringend nötig. Gründe genug, wieder mehr Essays zu verfassen. Und darüber zu sprechen.

Kulturelle Aneignung

Wenn es stimmt, dass die Fähigkeit zum Mitgefühl nicht nur die Wurzel aller Moral ist (Schopenhauer), sondern den Menschen erst zum Menschen macht, kommt es entscheidend darauf an, diese Fähigkeit zu schulen und zu entwickeln. 

Das Mitgefühl ist allerdings nicht auf einzelne Menschen beschränkt, sondern es kann weit darüber hinaus reichen und sich auf Gruppen, aber auch auf soziale Zusammenhänge, auf Texte, auf Kunst und ganze Kulturen erstrecken. Freilich spricht man dann eher von Empathie. Wer es versteht, sich in andere Menschen und Kulturen einzufühlen, kann die beglückende Erfahrung machen, das, was zunächst fremd erscheinen mag, besser zu erfassen, zu verstehen, vielleicht sogar schätzen zu lernen, und genau dadurch das Fremde zu überwinden und Zäune zu durchbrechen. Erst die Kunst des Verstehens und damit des sich in Menschen und Dinge Einfühlens öffnet andere Welten. Wer hingegen in allem stets nur das immer schon Be- und Erkannte sieht, erstarrt irgendwann im eigenen Biedersinn. 

Die Aneignung des Fremden durch die Kunst des Verstehens und der Empathie halte ich für eine fundamentale, aber bedrohte Kulturtechnik. Stets wurde sie durch den ewigen Spießer verurteilt, und neuerdings durch die sogenannte Identitätspolitik. Unter dem vorgeblichen Respekt für andere Lebensweisen und Lebensformen, insbesondere von Minderheiten, und der Heiligung des Fremden gilt kulturelle Aneignung als schwere Straftat oder als rassistisch. Insbesondere gelten Vermischung und Vermengung kultureller Attribute unterschiedlicher Herkunft als unrein, als moralisch unzulässige Herrschaftsausübung und Unterdrückungstechnik. 

Gerade kreative Prozesse beruhen aber sehr oft auf der Aneignung und Umarbeitung fremder kultureller Einflüsse. Das gilt für Musik, Kunst und Sprache, aber auch für andere geistige Prozesse und selbst für die Küche. Die allermeisten Kulturen mischen verschiedene Elemente, und nicht immer geschieht das respektvoll. Es gibt sogar Gattungen, die aus der Respektlosigkeit eine Kunst machen, Satire und Karikatur gehören dazu, auch der schwarze Humor von Monty Python (Das Leben des Brian) und nicht zuletzt der Karneval. Das Grelle und Überzeichnende muss man nicht immer gut finden, aber der Verzicht auf solche Formen bahnt den Weg in die Unfreiheit. Nicht umsonst stehen die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, aber auch die Kunstfreiheit unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes. 

Genau dies will die sogenannte Identitätspolitik abschaffen. Im Bewusstsein und in der Selbstzufriedenheit der eigenen moralischen Überlegenheit entsteht eine neue Lebensenge, die nicht verbindet, sondern auf Trennung und Reinheit der Formen besteht. Toleranz ist in dieser Welt nicht vorgesehen, sondern Verurteilung jeglicher Form der kulturellen Vermischung und Vermengung als rassistisch, ausbeuterisch, bevormundend und dergleichen mehr. 

Ich meine, dass auf diese Weise im Gestus moralischer Feinfühligkeit neue Gefängnisse errichtet werden, die zu Ende gedacht in der völligen Vereinzelung der Menschen landen werden, weil nur dann wahre Authentizität gewährleistet ist. Der Gestus identitärer Überlegenheit unterliegt damit einem doppelten Irrtum. Einerseits verkennt er, dass Fortschritt und Kreativität sehr oft von Anleihen leben, und andererseits denkt er seine Position nicht zu Ende. Nicht weltoffen und neugierig, sondern abgrenzend und verschlossen, nicht fröhlich und witzig, sondern empört und verurteilend schaffen Identitätsbesessene die offene Gesellschaft ab.

Dahinter steckt auch ein grundlegender Irrtum über die Freiheit. Freiheit ist kein Garant dafür, nie verletzt zu werden. In gewissem Umfang müssen wir alle, wenn wir friedlich zusammenleben wollen, die Freiheitsausübung der anderen erdulden, auch wenn es uns nicht passt und wir es nicht nur als lästig, sondern mitunter als verletzend empfinden. Andere dürfen uns bewerten, sich vielleicht sogar lustig über uns machen, sich unserer Sichtweisen und Symbole bedienen oder uns ablehnen, jedenfalls in gewissen Grenzen. Da, wo diese Grenzen zu eng gezogen werden, beginnt bald der Tugendterror. 

Ich rede damit ausdrücklich nicht der Freiheit das Wort, seinen Hass in den sozialen Netzwerken ungefiltert und ungestraft zu verbreiten, wohl aber einem mit Augenmaß betriebenen leben und leben lassen. Um die Einstellung dieses Augenmaßes geht es, und richtig ist auch, dass jede neue Generation das Recht hat, ihr Augenmaß neu zu justieren. Sicher sind wir in vielen Bereichen heute im Großen und Ganzen sensibler als vor 30 Jahren, was sich beispielsweise an der Witze-Kultur leicht ablesen lässt. Ostfriesenwitze, Blondinenwitze oder Türkenwitze sind heute nur noch peinlich und werden zu Recht als diskriminierend empfunden. 

Das Recht auf kulturelle Aneignung lasse ich mir deswegen aber nicht nehmen. Es ist eine Bereicherung und ein Glück, fremde Kulturen und Sichtwiesen aufgreifen und verarbeiten zu dürfen, selbst wenn das manchmal nur oberflächlich sein mag. Auch im Imitat kann ich nichts Schlechtes erkennen, zumal jedes Lernen zu Beginn ein Imitieren ist. Wer das nicht versteht und darin nur Unterdrückung und Niedertracht erkennt, wird bald ziemlich einsam sein. Und wie sich auf diese Weise echtes Mitgefühl für andere herausbilden kann, erschließt sich mir nicht.

Dabei sein?

Das Potsdamer Treffen zur sogenannten Remigration hat in weiten Teilen unseres Landes Demonstrationen gegen die AfD ausgelöst. Bürgerinnen und Bürger stellen sich die Frage „dabei sein oder nicht“. Aktuell findet ein gesellschaftlicher Sortierprozess statt, bei dem viele sich positionieren. Mit dem Mut zur Vereinfachung kann man dabei drei „Körbchen“ unterscheiden. 

Im ersten Körbchen befinden sich die AfD Anhänger, ihre Sympathisanten, die von der Politik Enttäuschten, die Wütenden, Menschen, die sich mehr nach der Vergangenheit als nach der Zukunft sehnen, politische Denkzettelverteiler – und eindeutige Nazis. Im zweiten Körbchen sammelt sich eine bunte gesellschaftliche Mischung, die aus ganz unterschiedlichen Beweggründen in der Ablehnung völkischen Gedankenguts einig ist. Diese Gruppe versteht sich als breite gesellschaftliche Mitte und beruft sich vehement auf das Grundgesetz. Dabei gibt es allerdings auch Eiferer, die über das Ziel hinausschießen und pauschal „gegen rechts“ ideologisieren. Zur Erinnerung: Rechts darf man unter dem GG sein. Rechts ist nicht gleich Nazi. Dies auseinanderzuhalten ist demokratische Pflicht, auch für Linke. Das dritte Körbchen ist wohl am schwierigsten zu fassen. Hier einigt Gleichgültigkeit die gesellschaftlichen Kräfte. Es sind die Distanzierten, die „geht mich nix an Gemeinde“ und die nur um sich selbst Kreisenden, die gar nicht selten zugleich ziemlich wohlhabend sind. In England hat man diese Leute zu Zeiten des Brexits die „anywheres“ genannt (meint: Sie können sich überall in ein neues Zuhause einkaufen). In Deutschland passt vielleicht das Bild vom Zauberberg, auf dem die Wohlhabenden, die meinen, über den – politischen – Dingen zu stehen, sich komfortabel eingerichtet haben. 

Meine These: Freiheitliche Gesellschaften scheitern in Wahrheit nur selten an ihren Gegnern, sondern zumeist am dritten Körbchen, also an denjenigen, die meinen sich heraus halten zu können. Rafik Schami hat das auf den Punkt gebracht: „Es gibt kaum eine Gruppe, die so viel Einfluss auf die Weltgeschichte hat wie die Gleichgültigen. Und das Bemerkenswerte daran ist, niemand spricht von ihnen. Ihre Passivität hat die radikalsten Umbrüche ermöglicht.“ 

Wer nicht gleichgültig ist, muss deswegen kein Revolutionär sein. In meinem demokratischen Basisbewusstsein gilt: Auch wenn wir uns nicht darüber einig sind, wohin wir politisch wollen, und auch wenn wir uns darüber zu unser aller Glück auch gar nicht einig sein müssen, so sollten wir doch darin übereinstimmen, wohin wir ganz entschieden nicht wollen. Diese Verbundenheit gründet keineswegs nur auf Ablehnung, sondern im letzten auf dem wechselseitigen Respekt und der Idee der Menschenwürde, die viele unterschiedliche Lebensformen gestattet. Aber nicht alle. Völkische Vorstellungen sind mit dem Grundgesetz unvereinbar. Unsere Verfassung errichtet deswegen eine wehrhafte, das heißt eine nicht-gleichgültige Demokratie. Die freiheitliche Welt besteht zwar oft mehr aus einem Nebeneinander als aus einem Miteinander ihrer Mitglieder. In ihr finden viele konkurrierende politische Projekte ihren Platz, aber kein völkisches Gedankengut. Dafür stehen allerdings viele in der AfD. Wer sich trotzdem hinter die AfD stellt muss wissen, dass er die Naziideologie der menschenverachtenden Ausgrenzung und des Hasses mit einkauft. Und wer davor die Augen verschließt übersieht, dass die AfD unserer freiheitlichen Demokratie den Kampf erklärt hat. Das schließt nicht aus, dass es im Programm der Partei auch einige Punkte geben mag, über die man diskutieren kann. Aber wer das eine will, der wird auch das andere bekommen. AfD ohne Naziideologie gibt es nicht. Und genau das ist der Grund dafür, dass die sonst eher träge und unsichtbare breite Mitte sich plötzlich vernehmbar macht und ihr Lebensmodell hochhält. Illusionen sollte man sich deswegen trotzdem nicht machen. Die in der Wolle gefärbten AfD-Sympathisanten wird man damit nicht zurückgewinnen, und einige werden auf den Wind, der ihnen entgegenschlägt, vorhersehbar trotzig reagieren. Dann ist das eben so. Das kann aber kein Grund dafür sein, sich vornehm zurückzuhalten. Viel wichtiger ist, was an anderer Stelle passiert. Vielleicht wacht der eine oder die andere im dritten Körbchen auf, bevor es ihm oder ihr ergeht wie großen Teilen der britischen Jugend beim Brexit. Die haben damals das Thema aus Desinteresse und Borniertheit schlicht verpennt. Wer sich nicht kümmert, wenn es darauf ankommt, und sich stattdessen lieber privat amüsiert, hat politisch gesehen eben Pech. Das kann leider zu Lasten von uns allen gehen, auch Demokratien sind Schicksalsgemeinschaften. 

Das Grundgesetz gewährt um der Freiheit willen zwar das Recht gleichgültig zu sein und sich herauszuhalten. Das Paradoxe daran: Eine offene Gesellschaft lebt davon, dass es trotzdem genügend Menschen gibt die wissen, wann sie politisch gefordert sind. Mit Einheitsfront oder politischer Gleichschaltung hat das nichts zu tun, sondern im Gegenteil. Frei bleibt auf Dauer nur, wer um die Vielfalt und die Verletzlichkeit der Freiheit weiß. Und wer seinen Beitrag zur Erhaltung eben dieser Freiheit leistet, wenn es darauf ankommt. Wenn Nazis sich anschicken, das Ruder in unserem Land zu übernehmen, kommt es darauf an.

Gewissheitsschwund? Zuversicht!

Dass die Welt weniger berechenbar ist als noch vor rund 15 Jahren, ist eine Binse. Wir erleben, dass uns viele vermeintliche Gewissheiten zwischen den Fingern zerrinnen. Das gilt im Großen, auf der politischen Bühne des Weltgeschehens – „von Freunden umzingelt“ war einmal -, aber auch in unserer kleinen persönlichen Welt. Auch wenn es den meisten von uns sehr gut geht: Vieles erscheint brüchiger, gefährdeter und unfriedlicher als früher. Die Illusion, dass man selbst irgendwie mitsteuern könnte, nimmt ab. Für eine Demokratie ist das nicht ungefährlich. Gewissheitsverluste führen zu Verunsicherung, und das macht vielen Angst. Das wiederum spielt radikalen Kräften in die Hände, die diese Verunsicherung nach Kräften bespielen, mit wachsendem politischem Erfolg, und das nicht nur in Deutschland. Aber nicht nur ehemals feste Gewissheiten verschwinden. Es beginnt bereits viel früher, nämlich beim Verstehen der Welt. Die Komplexität des gesamten Lebens hat enorm zugenommen. Dafür muss man nicht nur in die große Politik schauen, sondern es genügt ein Blick ins alltägliche Leben. Schon so triviale Dinge wie Bankgeschäfte, Internetnutzung oder der Umgang mit Behörden und Versicherungen können echte Herausforderungen darstellen. Und Besserung ist nicht in Sicht. Die Veränderungsgeschwindigkeit in unserer Welt nimmt beständig zu. Dass es in einer komplizierten Welt kein leichtes Verstehen, und erst recht keine einfachen Lösungen geben kann, liegt zwar auf der Hand. Aber viele sehnen sich gerade deswegen genau nach solchen einfachen Lösungen. 

Gewissheitsverluste und Verstehensdefizite sind allerdings noch nicht alle Verlustposten. Schwer wiegen auch Vertrauensverluste in politische, staatliche und gesellschaftliche Institutionen, wie beispielsweise die Kirchen, sowie persönliche Orientierungsverluste – selbst das eigene Geschlecht ist zunehmend nicht mehr eindeutig. Die Generationen der Jetzt-Zeit sind vor die Herausforderung gestellt, mit wachsenden Unsicherheiten zu leben. Sicher ist, dass viele Dinge nicht so bleiben, wie sie sind. Verlustresistenz gehört allerdings nicht unbedingt zu unseren kollektiv gut ausgebauten Fähigkeiten. Wo überkommene Gewissheiten, Weltverstehen, Vertrauen und eigene Orientierung abnehmen, stellt sich umso drängender die Frage: An welchen Eckpunkten kann ich mich ausrichten, und woran kann ich mich festhalten, persönlich, gesellschaftlich und politisch? Hinzu kommt, dass viele Propheten des Untergangs derzeit kräftig ins Horn stoßen, insbesondere beim Klima, bei der Energieversorgung, beim Wohlstand oder beim Frieden. Das macht die Sache nicht besser. Orientierung bleibt Mangelware. Die Regierenden, vornehmlich der Bundeskanzler, leisten sie jedenfalls nicht, und den Kirchen laufen ihre Mitglieder davon. Aber nicht alle radikalisieren sich. Viele ziehen sich einfach zurück, manche eher resigniert bis depressiv, manche entschlossen in Zielrichtung private Glücksmaximierung: „Machen wir es uns eben zu Hause mit Familie und Freunden schön und gemütlich“. Wieder andere stürzen sich in einen eher beliebigen Aktionismus und eilen atemlos von Event zu Event. Orientierung und Sinn stiftet das zwar nicht unbedingt, aber immerhin das Gefühl, dass „etwas“ geschieht. Auch wenn das jetzt sehr holzschnittartig gezeichnet ist, sind die vier großen Verlustposten Gewissheiten, Weltverstehen, Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen und in die Zukunft sowie persönliche Orientierung kaum von der Hand zu weisen. Wo private Verluste noch dazu kommen, verschärft sich das Ganze. Wie kann man damit umgehen?

Ich schaue ein paar Generationen zurück. Meine Großmutter, Jahrgang 1902, hat mehrere Reiche, Republiken, Armut, Inflationen und nicht zuletzt zwei Weltkriege erlebt. Spätestens ab 1918 gab es keine Gewissheiten mehr, jedenfalls keine angenehmen. Sie wurde dennoch eine starke Frau. Als Kriegswaise hat sie unter großen persönlichen Verlusten und Entbehrungen ihre Familie gegründet und mit viel Energie und Klugheit lebenstüchtig gemacht. Eher der SPD zugeneigt, realitätsnah und nüchtern, ohne übertriebene Frömmigkeit, aber im christlichen Glauben verwurzelt, hat sie ihr Leben gemeistert. Die Zuversicht, gegen alle schlechten Wegzeichen der Zeit, von denen es in ihrem Leben eine Menge gab, war vielleicht ihre wichtigste Gabe. Das Gegenteil von Zuversicht ist Resignation. Oder Realitätsflucht. Zuversicht macht resilient gegen Verluste. 

Was Zuversicht im Kern bedeutet, und vor allem: wo sie eigentlich herkommt, bleibt dennoch ein Rätsel. Martin Luther hat Zuversicht in das wunderbare Bild gesetzt: „Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen.“ Als Heute-Mensch frage ich mich: Woher nehmen Menschen die innere Kraft dazu, und was befähigt sie zur Zuversicht? Vielleicht sollten wir gerade in Zeiten abnehmender Gewissheiten viel mehr über die Quellen unserer Zuversicht und über unsere persönlichen Orientierungspunkte nachdenken, sie pflegen und gemeinsam darüber sprechen, ohne Radikalisierung, ohne Resignation, ohne Realitätsblindheit, und ohne die Flucht ins private Glück oder in die Beliebigkeit. Schade nur, dass ich meine Großmutter dazu nicht mehr befragen kann. Sie starb 1980. Sie war eine tolle Frau.